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bis zum Treffpunkt zu fahren, ist sie jetzt spät dran. Erstaunt bemerkt sie, dass es schon fast elf ist, als sie die State Street, die Hauptstraße in Cardiff, ausfindig macht. Plötzlich findet sie sich in einem Labyrinth von engen Einbahnstraßen wieder, durch die ein dichter Autostrom fließt, so langsam und bedächtig wie bei einem Beerdigungszug, anschließend in einer einzigen Spur durch eine nicht enden wollende Baustelle. Läuft zu Fuß weiter, nachdem das Auto geparkt ist, kann aber die Adresse, die sie bekommen hat, nicht ausfindig machen, sie läuft verzweifelt einen Bürgersteig entlang in ein Viertel hinein, das nur aus dem Schutt abgerissener Häuser besteht …

      Zu spät! Jetzt wird sie doch noch zu spät kommen.

      Verdammt. Warum hast du das gemacht? Einen Anruf angenommen, ohne den Anrufer zu kennen.

      Das war der ursprüngliche Fehler.

      9.

      »Miss Seidel! Bitte nehmen Sie Platz.«

      Lucius Fischer schüttelt kräftig Clares Hand. Und lässt sie nahezu im selben Moment wieder los. So nüchtern und sachlich, wie er sie anschaut, dann wieder tief in Gedanken versunken, begreift Clare augenblicklich, dass es keine engere Beziehung zwischen ihr und diesem Rechtsanwalt mittleren Alters geben kann, keine besondere Verbundenheit. Druck und Anspannung, die sich in ihrer Brust zusammengeschnürt hatten, lösen sich langsam auf, rieseln hinab, wie Sand auf einen Haufen.

      Wie dumm sie doch ist! Am Telefon hatte Lucius Fischers tiefe Baritonstimme sie in einer Art Zauber gefangen genommen. Als ob sie die Hoffnung haben könnte, in diesem weit entfernten Cardiff, einem Ort, von dem sie bis vor Kurzem noch nie gehört hatte, eine Art (unwahrscheinlicher) Romanze, ein sexuelles Abenteuer zu finden.

      Oder wenigstens einen Freund. Jemanden, der sich um sie sorgte.

      Fischer hatte ihr im Telefongespräch das Gefühl gegeben, er habe Vertrauen zu ihr. Sie konnte sich das doch nicht eingebildet haben – oder?

      Er schien ihr versprochen zu haben – Ich lotse dich da durch, Clare. Du kannst mir vertrauen.

      Sorgsam erklärt Fischer ihr, dass er sowohl der Testamentsvollstrecker von Maude Donegal sei als auch ihren letzten Willen damals zusammen mit ihr aufgesetzt habe. Er erklärt, dass das Testament ungewöhnlich kompliziert sei, da es über einen Zeitraum von zwanzig Jahren hinweg einige Male neu geschrieben werden musste.

      »Es gab ein Originaltestament, das ein früherer Kompagnon dieser Kanzlei aufgesetzt hat«, sagt Fischer und erwähnt einen Namen, der Clare nichts sagt und der auch keinen Eindruck auf sie macht, »doch dieses Original wurde natürlich verändert. Und nach Leland Donegals Tod noch einmal angepasst.«

      Clare fragt sich, warum er ihr dies alles erzählt. Gibt es irgendein Geheimnis, das das Testament ihrer Großmutter umgibt? Eine Art legaler Unregelmäßigkeit? Sie hört fasziniert zu, als er von den Lacey-Schwestern, Elspeth und Morag – »Ihre respekteinflößenden Großtanten – die beiden ledig gebliebenen Schwestern einer längst vergangenen Ära« spricht. Beide Frauen, Elspeth und Morag, schlossen ihr Pädagogikstudium in den 1960er-Jahren in der Universität von Maine ab. Beide wurden Lehrerinnen. Morag unterrichtete Mathematik und leitete das Bogenschützen-Team der Schule. Beide Frauen waren aktive Mitglieder der Gemeinde St. Cuthbert. Ihr Neffe Gerard – Maude Donegals jüngerer Sohn – besuchte mit Anfang zwanzig das Jesuitenseminar in Portland.

      »Man sagte damals, dass Gerard eine sehr vielversprechende Karriere vor sich habe. Zu jener Zeit kannte ich Gerard natürlich noch nicht – ich wurde erst anschließend auf ihn aufmerksam.«

      Anschließend? Clare stutzt.

      Fischer sagt Clare, dass er die Familie Donegal ursprünglich durch Leland Donegal kennengelernt hatte, der nach der Pensionierung eines älteren Teilhabers in Fischers Anwaltskanzlei sein Mandant wurde. Leland hatte das Holzunternehmen der Familie Donegal – »eine jener alten Familien in Maine, die durch das Abholzen von Wäldern ein Vermögen verdient haben« – geerbt und es nach Cardiff-Maßstäben zu großem Wohlstand gebracht.

      Wie sich später herausstellte, hatte Leland sich nicht sehr gut um seine Geschäfte gekümmert. Sein Wunsch war es, als berühmter Wohltäter in die Geschichte einzugehen, wie die Carnegies und die Rockefellers. Es müssen Millionen von Dollar gewesen sein, mit denen er Stipendien für amerikanische Studenten finanziert hat, Museen und Colleges, Krankenhäuser und die Kirche unterstützte – bis irgendwann sein Reichtum zur Neige ging.

      »Offensichtlich passierte ihm dann etwas sehr ›Unangenehmes‹. Leland hatte dem Jesuitenseminar, in dem Gerard eingeschrieben war, eine Million Dollar zugesagt, aber dann – musste er diese Zusage zurücknehmen, eine Schmach für die ganze Familie. Und es gab noch eine Reihe ähnlicher Absagen.«

      Clare möchte mehr über Gerard in jungen Jahren wissen: War er damals schon so menschenscheu, auf gewisse Art behindert, entstellt? Oder war ihm etwas passiert? Allerdings möchte sie bei Lucius Fischer auch nicht den Eindruck hinterlassen, sie sei eine neugierige Person.

      »Und – meine Eltern? Sind sie …«

      Clare zögert. Denn sie kennt die Antwort.

      Falls Clares Frage Fischer verwirrt, so ist er doch zu sehr Gentleman und zu sehr Profi, als dass er seine Verwirrung durchblicken ließe.

      »Ihre Eltern, Miss Seidel? Sie wissen doch sicher – leider sind sie nicht mehr am Leben.«

      Nicht mehr am Leben. Eine eigenartige Formulierung.

      »Sie sind gestorben, meine Liebe – verstarben – am 6. Januar 1989.«

      »Ah. Ich verstehe.« Ein ausdrucksloses Lächeln. Clare wischt sich die Augen. Selbst jetzt ist sie sich nicht sicher, ob sie es richtig verstanden hat. »Sagten Sie – beide? Ich meine … alle beide

      »Leider ja. Alle beide.«

      »Am selben Tag? Beide – gleichzeitig?«

      »Hat Sie niemand informiert, Miss Seidel?«

      »Ich – ich – glaube schon, doch. Aber …«

      Natürlich weiß Clare Bescheid. Hat es immer gewusst. Muss es gewusst haben. Die Seidels haben es ihr erzählt. (Oder?) Aber das ist viele Jahre her. Ganz sicher ist das viele Jahre her.

      Was für ein bemitleidenswerter Gedanke, dass einer oder beide Elternteile möglicherweise noch am Leben seien und dass sie, Clare, hier in Cardiff mit ihnen »wiedervereinigt« würde. Sie hat auf einmal das Bedürfnis laut zu lachen, ein hartes Lachen.

      Bitte hilf mir. Ich bin so einsam. Bitte.

      Clare schüttelt den Kopf, um ihn freizubekommen. Was um Himmels willen hat sie nur für Gedanken! Blut schießt ihr ins Gesicht und sie hat Angst, der (verdutzte, verwirrte) Anwalt könne ihre Gedanken lesen.

      Steife, entschuldigende Worte von Fischer: »Es tut mir leid, dass ich Sie so aus der Fassung gebracht habe, Miss Seidel. Wenn ich irgendwie …«

      »Ja. Sagen Sie mir bitte: Wie sind meine Eltern gestorben?«

      »Wie Ihre Eltern starben? Also, ich glaube – das wurde nie mit Sicherheit bestätigt. Ich bin nicht mit allen Einzelheiten des Falles vertraut, weil ich zu jener Zeit nicht in Cardiff gelebt habe …« Fischer wählt seine Worte sorgsam, er zögert. »Der beste Rat, den ich Ihnen geben kann, ist der, die Todesanzeigen zu lesen, Miss Seidel. Und andere öffentlich verfügbare Dokumente. Wahrscheinlich können Sie die Todesanzeigen nicht online abrufen, aber es ist auf jeden Fall möglich, sie im Cardiff Journal auf Mikrofilm in der Zentralbibliothek einzusehen. Das wäre eigentlich die beste Idee.«

      »Sie sind bei einem Unfall gestorben? Bei einem Autounfall?«

      »Kann sein, dass es eine Art Unfall war. Möglich. Aber ich glaube, Sie sollten das nachlesen. Ich rate Ihnen, das nachzulesen.«

      »Was für eine Art Unfall war es denn?«

      Clare hat ein flammendes Inferno auf der Autobahn vor Augen. Ein Sattelzug, ein zermalmter PKW.

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