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hatten. Würde dieser Haß einmal zum vollen Ausbruch kommen, würden Unglück und Zerstörung die Folge sein.

      Über das Plakat, das im vergangenen Jahr in der Stadt Hien in der Provinz Chihli angeschlagen worden war, hatte Stanton Ware nicht mit dem britischen Gesandten gesprochen. Der Wortlaut dieses Plakats war:

      Die Patrioten aller Provinzen, die erlebt haben, wie die Männer aus dem Westen in ihrem Verhalten alle Grenzen überschreiten, haben beschlossen, sich am fünfzehnten Tag des vierten Mondes zu versammeln und die Fremden zu töten und ihre Häuser niederzubrennen. Alle, deren Herzen nicht mit uns sind, sind Schurken und niederträchtige Weiber.

      Weder in Peking noch in London hatte dieses Plakat viel Aufmerksamkeit erregt, als die Jesuiten-Missionare darüber berichteten.

      Stanton Ware jedoch hatte erkannt, daß dies der Anfang war, und er wußte, daß die Boxer nur stärker geworden waren, weil man den Anfängen nicht gewehrt hatte.

      Er hatte jedoch gehofft, daß es noch nicht zu spät war, um China zu retten. Doch schon bei seiner Ankunft hatte er erkannt, daß die Uhr abgelaufen war.

      Ohne sich selbst schmeicheln zu wollen, sagte er sich, daß man ihn schon viel früher nach China hätte entsenden müssen.

      Auf dem Weg zum Hause Tseng-Wens durchdachte er noch einmal alles, was er über Li Hung-Chang wußte, und er kam zu dem Schluß, daß der betagte Vizekönig der einzige war, der vielleicht noch helfen konnte.

      Er betrat das Haus Tseng-Wens und spürte sofort, daß er erwartet wurde.

      Man führte ihn durch einen mit winzigen Bäumen bepflanzten Hof in einen sehr großen, hohen Raum.

      Jetzt im Winter war der Boden mit wunderschönen dicken Teppichen bedeckt; im Sommer würde man sie durch erlesen bemalte, geflochtene Bambusmatten ersetzen, die sauber und kühl waren.

      Wertvolle Zeichnungen und Gemälde, die Stanton Ware gern näher studiert hätte, schmückten die Wände neben einer kostbaren Jade-Sammlung.

      Schließlich wurde die Tür geöffnet, und ein alter Herr mit grauem Bart betrat den Raum.

      Stanton Ware, der gewohnt war, einen Menschen auf den ersten Blick hin zu beurteilen, erkannte sofort, daß er diesen Mann schätzen würde und daß er ihm vertrauen konnte.

      Da es im Fernen Osten verpönt ist, Eile an den Tag zu legen, erwiesen sie sich zunächst durch mehrere Verbeugungen ihre gegenseitige Verehrung.

      Dann wischte der Mandarin mit dem Ärmel seines seidenen Gewandes über den zweifellos fleckenlosen Stuhl, auf dem Stanton Ware Platz nehmen sollte. Stanton Ware erwiderte diese Geste, indem er ebenfalls den Stuhl seines Gastgebers säuberte.

      Dann verbeugten sie sich erneut voreinander und nahmen schließlich ihre Plätze ein.

      Ein Diener brachte Wein und die traditionellen köstlichen Süßigkeiten. Er servierte sie auf Porzellantellern, die von solch erlesener Schönheit waren, daß Stanton Ware sich kaum bezwingen konnte, seiner Bewunderung nicht Ausdruck zu geben.

      Er wußte jedoch, daß man das als Unhöflichkeit betrachten würde, und so wartete er, daß Tseng-Wen zu sprechen begann.

      Sein altes Gesicht war traurig und sorgenvoll, tiefe Furchen lagen unter seinen Augen.

      »Sie sind zu einem traurigen Zeitpunkt gekommen, mein Sohn«, begann er langsam. »Mein Herz ist voller Sorge um die Zukunft unseres Landes. Uns stehen dunkle Zeiten bevor, doch meine Freundin aus dem ,Haus der tausend Freuden' sagte mir, wenn irgendjemand die Katastrophe verhindern könne, dann Sie.«

      »Das ehrt mich sehr, edler Herr«, erwiderte Stanton Ware. »Ich wollte Sie um Rat bitten.«

      Tseng-Wen seufzte.

      »Unsere Unterhaltung sollte unbedingt unter uns bleiben.« Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort: »Ihre Majestät, die Witwe des Kaisers, ist besessen von der Idee, daß die Boxer die Rettung für unser Land sind. Seit ich es wagte, ihr zu widersprechen, hat sich eine dunkle Wolke vor die Sonne geschoben, und ich lebe in der Finsternis.«

      »Ihre Majestät glaubt das wirklich?« fragte Stanton Ware.

      Der alte Mann nickte.

      »Sie war schon immer sehr abergläubisch«, entgegnete er, »und besucht viele Orakel und Hellseher.«

      »Dann weiß sie aber doch sicher auch, daß für dieses Jahr ein großes Unglück prophezeit wurde?« wandte Stanton Ware ein.

      Tseng-Wen seufzte erneut.

      »Die Kaiserin ist von skrupellosen Menschen umgeben, müssen Sie wissen, und sie erzählen ihr, was sie hören möchte.«

      Stanton Ware wußte, daß das der Wahrheit entsprach und daß es viele Regierungsbeamte in der Verbotenen Stadt gab, für die es nur von Vorteil sein konnte, wenn die Kaiserin nicht alles erfuhr, was draußen geschah.

      »Aber die Kaiserin glaubt doch sicher nicht an ihre angeblichen Zauberkräfte?« fragte Stanton Ware.

      Tseng-Wen schüttelte gequält den Kopf.

      »Jemand, der es wissen muß, erzählte mir, daß sie ihre Parolen siebzigmal am Tag wiederholt.«

      »Wie bitte?« fragte Stanton Ware irritiert.

      Der alte Mann zögerte, als wolle er seine Lippen nicht mit den Worten beschmutzen, dann zitierte er: »Ich bin der Geist der kalten Wolke, hinter mir liegt der Gott des Feuers. Fleht die schwarzen Götter der Pest um Hilfe an!« Seine Augen waren umwölkt, als er fortfuhr: »Jedes Mal, wenn Ihre Majestät diese Sprüche wiederholt, ruft ihr Oberdiener: ,Da ist wieder ein fremder Teufel!'«

      »Das ist kindisch«, erklärte Stanton Ware.

      »Wer immer auch das Feuer entfacht - die Qualen, die es verursacht, werden die gleichen sein«, stellte der alte Mann fest.

      »Gibt es irgendetwas, das ich tun kann?«

      »Ich habe darüber nachgedacht, bevor Sie kamen«, antwortete Tseng-Wen. »Wie Sie sicher wissen, gibt es nur einen Mann, der China retten kann, wenn er dazu bereit ist.«

      Stanton Ware sagte nichts, er kannte die Antwort.

      »Ich habe Li Hung-Chang mein ganzes Leben lang vertraut«, fuhr Tseng-Wen fort, »obwohl ich weiß, daß viele Dinge über ihn gesagt werden, die seinem Ansehen geschadet haben und die den Westen vermuten lassen, daß er nicht der ist, für den er sich ausgibt.«

      Tseng-Wen brauchte nicht zu wiederholen, was man Li Hung-Chang nachsagte, Stanton Ware kannte die Gerüchte.

      Es hieß, Li Hung-Chang habe Bestechungsgelder entgegengenommen - kein Zweifel, er war einer der reichsten Männer Chinas -, und er habe trotz seiner fortschrittlichen Einstellung den Kaiser im Kampf gegen seine Tante nicht unterstützt.

      Doch er hatte sein Leben in den Dienst Chinas gestellt, und seine Meinung über die Ausländer war stets die gleiche gewesen: »Ihre Gefühle für China sind aufrichtig und freundschaftlich und ohne jede Feindseligkeit.«

      Er war kein Mandschu wie der größte Teil der Gefolgschaft der Kaiserin, ja, wie beinahe alle, die Mi den Regierungsgeschäften in China zu tun hatten.

      Er war ein Han-Chinese, ein ungewöhnlich ehrgeiziger Mann von großem Durchsetzungsvermögen, der den breiten Dialekt seiner Heimat Anhwei sprach.

      Li Hung-Changs Familie war von den Taiping-Rebellen getötet worden. Im Alter von neununddreißig Jahren wurde er Gouverneur von Kiangsu.

      Sein Leben lang hatte er, manchmal sogar ganz auf eigene Faust, für die Entwicklung Chinas zu einer Großmacht in einer sich schnell entwickelnden Welt gekämpft, und Stanton Ware war sicher, daß Tseng-Wen recht hatte, wenn er sagte, ihre einzige Hoffnung sei jetzt Li Hung-Chang.

      »Wie kann ich mit ihm in Verbindung treten?« fragte er.

      »Es wird schwierig sein, doch es müßte sich machen lassen.«

      »Wie?«

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