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Dorfjunge. Paul Keller
Читать онлайн.Название Dorfjunge
Год выпуска 0
isbn 9788711517444
Автор произведения Paul Keller
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Wer schon in einer kleinen Stellmacherwerkstatt war, wird wissen, was ein „Radestock“ ist, und wer’s nicht weiss, stelle sich nur ein langes rechteckiges Loch in der Diele vor, in das der Stellmacher die Räder stellt, die er bearbeitet. Der Radestock hatte für mich mannigfache Bedeutung. Er war das Gefängnis, in das ich den „Fips“ sperrte, wenn er in Ungnade bei mir fiel; er war die Räuberhöhle, in der ich mit meinem Kumpan Karl von allen grossen Taten sprach; er war das Bergwerk, in das ich oft mit Laterne und Kohlschaufel stieg; er war der Brunnen, in den ich unzähligemal fiel, ohne je auf Frau Holles grüne Wiese zu kommen; er war das Grab, in das ich mich legte, wenn mir weich ums Herz war und ich tot sein und still liegen und träumen wollte. Jetzt sollte er auch mein Rauchkabinett sein.
Der Grossvater sass am Ofen und schlief. Vorsichtig betrachtete ich ihn, im Radestock knieend, dann packte ich auf der Diele meine Tabakvorräte aus. Ich hätte mir gerne eine Pfefferminze geleistet, aber da ein ganz gewöhnlicher Donnerstag war, begnügte ich mich mit Baldrian.
Mein Kopf verschwand unter der Erde. Nur eine Hand langte aus der Höhlung heraus und rieb ein Zündholz gegen die rauhe Diele. Rot und magisch glänzte die dunkle Höhle des Radestockes auf, dann brannte die Pfeife.
O, war das ein Genuss! Ich blies den weissen Rauch aus der dunklen Höhle hinauf ins Lichte. Der Frühlingssturm stiess an die Fenster, die Uhr tickte, die Katze schnurrte, und ich lag so wonnig in der Tiefe und rauchte.
Von Zeit zu Zeit hob ich den Kopf und sah nach dem Grossvater. Er führte kuriose Bewegungen aus. Manchmal fuhr er mit der rechten Hand nach der linken Seite, als wenn er jemand eine Ohrfeige geben wollte, und manchmal griff er sich nach dem Beine. Ich tat zwei nachdenkliche Züge, und dann wusste ich’s. Säen wollte er gern, und das Reissen hatte er im Beine. Das war, weil’s Frühling wurde.
Wieder lag ich ganz still. Von der Zeit träumte ich, da ich ein grosser Herr sein und eine Tabakspfeife haben würde, zwei Meter lang, gefüllt mit richtigem Tabak. Ein Heer von Gedanken und Wünschen kam, und unter allen stieg immer der eine grosse, inbrünstige wieder auf: wenn es mir gelingen möchte, den Rauch durch die Nase zu blasen. Es gelang nicht; ich musste nur erschrecklich husten.
Da stand plötzlich der Grossvater am Radestock. Wir sahen uns beide erstaunt an, dann mussten wir lächeln. Beide! Und ganz verständnisinnig!
„Dass dir no schlecht wird,“ sagte er und ging aus der Stube. Jauchzend blickte ich ihm nach. Die Tabakpfeife war genehmigt.
Mein Jubelgefühl war so stark, dass mir der Radestock zu eng wurde. Ich lief in den Hof. Der Wind hatte das Tor aufgerissen, und draussen lag das weite Feld. Dort hinaus lief ich. Gleich hinter dem Besitztum des Grossvaters stieg der Feldweg zu einer kleinen Anhöhe empor. Auf der blieb ich stehen.
Die Felder lagen schwarz und braun; grau waren die Raine und matt das Grün der Saaten. Farblose Lachen standen in den Niederungen, hie und da war eine abgerissene, verlorene Schneelinie, und die schwarzen Krähen segelten durch die Luft. Es war ein ganz farbiges Bild. Auch die lichten Wolken, die mit der Sonne rangen, waren schön, und auf den Wiesen schüttelten die Weiden ihre langhaarigen Köpfe. Ich stand ganz still, und durch den jungen, gesunden Leib strömte es frühlingskräftig und wonnig. Jetzt dazu noch eine Pfeife rauchen können, dann wäre das Mass des Glückes übervoll. So etwas fiel mir ein. Ach, es gelang nicht, wie ich mich auch bog und krümmte und die kleine Jacke ausbreitete: der Frühlingssturm löschte mir das Licht aus.
So tanzte ich den Berg hinunter. An der Esche passierte noch etwas. Dort wühlte ein Spatz mit seinem harten Schnabel im Moose. Ich vermutete gleich, ein Käferlein werde in dem grünen Bettchen liegen und gar wonnig vom Frühlung träumen. Das wollte der Spatz fressen.
Lump! Wenn mich nun der Grossvater auch gefressen hätte, als ich vorhin so glücklich in der Tiefe lag!
Ich hob einen Stein auf und warf. Ich traf den Räuber nicht, doch ich verscheuchte ihn. Aber ach, der Stein lag schwer auf dem Moose.
Nun hatte ich vielleicht das Käferlein selber getötet.
Auf der Dorfstrasse erst endeten meine Gewissensbisse. Dort stand der Kühprinz und titschte — titschte mit seinem alten Gegner. Er war so aufgeregt und so ins Spiel verbissen, dass er mich gar nicht sah. Sein Herr hatte ihn offenbar mit einem Auftrag ins Dorf geschickt, und er war noch nicht zurückgekehrt. Nein, er titschte, der leichtsinnige Mensch. Ich gedachte, ihn zu ärgern.
Hinter einer Mauer stopfte ich meine Pfeife mit meiner besten Sorte — mit Pfefferminze. Ich zündete das edle Kraut an und trat mit einem kurzen Grusse zu den Spielenden. Sie dankten kaum. Aber ich stand behaglich und protzig da und liess das köstliche Aroma meines Tabaks dem Kühprinzen beständig unter die Nase streichen. Er schnüffelte, ich glaube, die Augen gingen ihm über, aber er sagte nichts.
Er hatte übrigens grenzenloses Pech, der Kühprinz. Fast bei jedem Wurfe verlor er. Anfangs hielt sich das Spiel in mässigen Grenzen; zwei Knöpfe auf einen Wurf, das kann ein mutiger Spieler schon wagen. Aber dann artete es aus. Der Kühprinz, der ungeheuer im Verluste war und immer mit meinen Knöpfen bezahlte, bot fünf, endlich sogar zehn Knöpfe auf einen Wurf. Mit Ingrimm sah ich die schönen Knöpfe, von denen ich jeden einzelnen kannte und liebte, in die Tasche des Gegners wandern. Ich warnte — es war umsonst. Der Unglückliche war völlig verblendet. Endlich hatte er bloss noch zwanzig Knöpfe und setzte alles auf einen Wurf. Der Wurf fiel, und — alles war verloren. Mit erbleichtem Gesichte und zitternden Händen, so stand der Kühprinz da. Er war ruiniert! Mechanisch griff er in die Tasche und warf seinem Gegner die letzte Habe vor die Füsse. Mir aber ging zum erstenmal im Leben die Pfeife aus.
Ich weiss nicht, warum ich ihn begleitete. Es war wohl tiefes Mitleid. Ich wollte ihn trösten, mit ihm reden — er gab keine Antwort. Erst als ich ihm riet, er solle sich nie mehr mit dem Heinrich einlassen, tat er einen leisen Fluch.
Der Frühlingswind sang in den Ästen, melancholisch und schaurig, der volle Bach rauschte und dröhnte, und unser Hund lief den Rand entlang und bellte das Wasser an. Mir wurde weich ums Herz.
Alles, was ich an kleiner Münze bei mir trug, es waren sieben Bleiknöpfe, bot ich dem Kühprinzen an. Er könnte ja klein und vorsichtig wieder anfangen, sagte ich gutmütig. Finster schlug er meine Gabe aus. Er werde nie mehr spielen, sagte er. Da tat mir’s leid, dass er so ganz mit dem Leben abschliessen wollte. Und gerade jetzt, wo der Frühling kam.
Die Gasse, in der wir gingen, war schmal. Rechts und links lagen Gärten mit hohen, verwachsenen Zäunen. Die Ruten bogen sich im Winde, es war schon finster in der Gasse, und der Bach gurgelte so laut. Da fürchtete ich mich plötzlich.
„Ich muss heem,“ sagte ich und blieb stehen.
Er sah mich an — tückisch, mit bösen, gelben Augen. Er wollte etwas sagen, aber brachte es nicht gleich heraus, weil es ein schweres, sündiges Wort war.
„Ich muss heem,“ wiederholte ich. „Schloof gesund!“ Da krächzte er mich unvermittelt mit heiserer Stimme an:
„Gib die Feife har!“
„Die Feife? Ich hütt’ mich! Die is meine!“
„Gib die Feife har!“
„Ich hab’ se gekooft! Fer zweehundert ...“
„Gibste de Feife har?“
Das gurgelte er. Und er fasste mich am Halse. Er war einen Kopf grösser und wohl doppelt so stark als ich. Er presste mir die Kehle zusammen. Ganz finster wurde es um mich, und ich fühlte nur den Arm des Räubers. Es lag so ein lähmender Schreck in meinen Gliedern, dass ich mich kaum wehrte. Ich glaube, ich dachte auch nichts, wie er mich so würgte. Nur der gute Grossvater fiel mir auf eine Sekunde ein mit heissem Heimweh.
Das Blut blieb mir im Kopfe stehen, und es war, als ob mir die Stirn auseinanderplatzen sollte.
Vielleicht war ich nahe daran, die Besinnung zu verlieren.
Da liess der starke Bursche meinen Hals los und griff nach meiner Brusttasche.