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Die Abenteuer des Sherlock Holmes. Sir Arthur Conan Doyle
Читать онлайн.Название Die Abenteuer des Sherlock Holmes
Год выпуска 0
isbn 9788726755084
Автор произведения Sir Arthur Conan Doyle
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Nun halte ich ihn unter dem Daumen. Nur er und zwei Matrosen an Bord sind geborene Amerikaner; die übrigen sind Deutsche und Finnländer. Auch erfuhr ich, dass sie vorige Nacht alle drei nicht auf dem Schiff waren. Der Stauer, der die Ladung löschte, hat es mir gesagt. Bei der Einfahrt des Schiffes in Savannah wird der Postdampfer bereits diesen Brief abgeliefert haben, und die Polizei von Savannah hat durch das Kabel schon erfahren, dass auf die drei Herren von hier aus eines Mordes wegen gefahndet wird.“ —
Wie schlau der Mensch aber auch seine Pläne ersinnen mag, sie werden doch oft vereitelt. John Openshawz Mörder sollten nie und nimmer die fünf Kerne erhalten, die ihnen bewiesen hätten, dass ein anderer, der nicht minder verschmitzt und entschlossen war wie sie selbst, ihnen auf die Spur gekommen sei.
Die Aequinoktialstürme waren in diesem Jahr besonders heftig und unheilvoll. Vergeblich warteten wir lange Zeit auf Nachrichten über den ,Lone Star‘ aus Savannah.
Endlich hörten wir, dass irgendwo, weit draussen im Atlantischen Ozean, ein zerbrochener Hintersteven mit den Buchstaben L. S. gezeichnet, den die Wogen umhertrieben, aufgefunden wurde. — Das ist alles, was je vom Schicksal des ,Lone Star‘ zu uns gedrungen ist.
Ein Fall geschickter Täuschung
„Lieber Freund,“ sagte Sherlock Holmes, als wir behaglich beisammen an seinem Kamin in der Bakerstrasse sassen, „das Leben selbst bringt weit Merkwürdigeres hervor, als alles, was der menschliche Geist zu erfinden vermag. Könnten wir jetzt Hand in Hand aus diesem Fenster fliegen und, über der Riesenstadt schwebend, die Dächer abheben, um zu beobachten, was sich in den Häusern zuträgt, wir würden staunen über alle die Pläne, die seltsamen Vorfälle, die Verkettung von Umständen, die sich durch Generationen hinzieht und zu den wunderbarsten Ergebnissen führt. Jegliche Dichtung mit ihren althergebrachten Formen, ihrem leicht vorauszusehenden Ausgang müsste uns schal und wertlos erscheinen.“
„Und doch bin ich hiervon nicht ganz überzeugt,“ erwiderte ich. „Die Fälle, welche die Zeitungen bringen, sind meist trocken und alltäglich genug. In unsern Polizeiberichten ist der Realismus auf die Spitze getrieben, und doch ist der Eindruck, den sie machen — das lässt sich nicht leugnen — weder spannend noch künstlerisch.“
„Um eine realistische Wirkung zu erzielen,“ bemerkte Holmes, „bedarf es einer gewissen Auswahl und Umsicht; hieran gebricht es den polizeilichen Berichten, die vielleicht auf die seichte Darstellung des Beamten mehr Wert legen, als auf die interessanten Nebenumstände, in denen der ernstere Beobachter die Beweggründe zu erblicken versteht, welche die That herbeiführten. Glaube mir, nichts ist so aussernatürlich wie das Alltägliche.“
Ich lächelte ungläubig. „Mich wundert nicht, dass du so denkst,“ sagte ich, weil du, als ausserordentlicher Helfer und Berater aller Ratlosen in drei Weltteilen, nur mit Ungewöhnlichem und Seltsamem in Berührung kommst. Lass mich,“ bat ich, die Zeitung vom Boden aufhebend, „meine Behauptung praktisch beweisen. Ich nehme die erste beste Notiz: ,Grausamkeit eines Gatten gegen seine Frau.‘ Die Geschichte füllt eine halbe Druckspalte, und ich kann sie ungelesen erzählen. Unbedingt ist eine andere Frau im Spiel, im übrigen entwickelt sich die Geschichte wie folgt: Trunkenheit, rohe Behandlung, Gewaltthat, Verwundung, Erscheinen der hilfreichen Schwester oder Wirtin. Der gewöhnlichste Schriftsteller könnte nichts Gewöhnlicheres erfinden.“
„Fehlgeschossen, dein Beispiel passt auf deine Behauptung wie die Faust aufs Auge,“ meinte Holmes, das Blatt überfliegend. „Es handelt sich hier um die Ehescheidung der Dundas, und zufällig hatte ich einige Punkte dabei aufzuklären. Der Mann ist ,Teetotaler‘, ein Mensch, der geistigen Getränken entsagt, eine andere Frau ist nicht im Spiel; die Anklage lautet: Der Mann habe sich angewöhnt, stets die Mahlzeit damit zu beschliessen, dass er sein falsches Gebiss herausnahm und es seiner Frau an den Kopf warf, ein Gebaren, das — du wirst mir das zugeben — nicht so leicht dem ersten besten Schriftsteller einfallen wird. Nimm eine Prise, Doktor, und gieb zu, dass dein Beispiel nicht stichhaltig ist.“
Er hielt mir seine Dose hin; sie war aus altem Gold und ein grosser Amethyst schmückte den Deckel. Das Kleinod passte wenig zu Holmes’ sonstiger Umgebung und einfacher Lebensweise; ich konnte nicht umhin, eine Bemerkung darüber zu machen.
„Ja so,“, sagte er, „ich vergass, dass ich dich seit einigen Wochen nicht gesehen habe. Das verehrte mir der Fürst von O ... als kleines Andenken für meine Bemühungen um die Papiere der Irene Adler.“
„Und dieser Ring?“ fragte ich und blickte auf einen auffallend schönen Diamanten, der an seinem Finger glänzte.
,,Den erhielt ich von einem Mitglied des holländischen Königshauses; doch die Sache, mit der ich betraut war, ist so subtiler Art, dass ich sie nicht einmal dir anvertrauen kann, da du so freundlich gewesen bist, einige meiner kleinen Erlebnisse niederzuschreiben.“
„Ist wieder etwas im Werk?“ fragte ich begierig.
„Wohl zehn bis zwölf verschiedene Fälle, doch ist keiner besonders interessant, wenn sie auch wichtig genug sind. Geringfügige Angelegenheiten bieten meist ein weites Feld für die Beobachtung und die rasche Ergründung von Ursache und Wirkung, welche einer Untersuchung den Hauptreiz verleiht. Grosse Verbrechen spielen sich meist einfach ab, denn, je grösser das Verbrechen, um so klarer ist der Regel nach der Beweggrund dazu. Unter meinen jetzigen Fällen ist, bis auf eine dunkle Geschichte, die mir von Marseille aus vorgelegt wurde, keiner erwähnenswert. Vielleicht aber bringen uns die nächsten Minuten das Gewünschte, denn, irre ich nicht, so kommt da drüben eine Klientin für mich.“
Holmes hatte sich von seinem Stuhl erhoben, er stand am Fenster und blickte auf die düstere, graue Strasse hinab. Ich trat hinter ihn und sah auf der andern Seite der Strasse eine grosse Frau mit einer schweren Pelzboa um den Hals und einer grossen roten Schwungfeder auf der breiten Krempe ihres Hutes, der ihr kokett auf einem Ohre sass. Unter diesem breiten Dach blickte sie unruhig und unschlüssig zu unsern Fenstern herauf; sie schien zu schwanken, ob sie vor- oder rückwärts gehen sollte, und ihre Finger zupften nervös an den Handschuhknöpfen. Plötzlich eilte sie rasch über die Strasse, wie der Schwimmer, der vom Ufer abstösst, und laut ertönte der schrille Klang der Hausglocke.
„Diese Symptome kenne ich,“ sagte Holmes und warf seine Cigarre ins Feuer. „Unentschlossenheit an der Thürschwelle — weist stets auf eine Liebesgeschichte hin. Sie möchte sich Rat holen, doch schwankt sie noch, ob nicht die Angelegenheit zu zart für einen dritten ist. Aber selbst dabei lässt sich manches unterscheiden. Ist einer Frau von einem Manne schweres Unrecht geschehen, dann ist sie entschlossen, sie reisst an der Klingel, ja sie zerreisst sie. Hier haben wir es mit einer Herzensangelegenheit zu thun, und die Dame ist sichtlich weniger aufgebracht, als ratlos und bekümmert. Ah, da kommt sie ja schon und kann unsere Zweifel lösen.“
Als Holmes noch sprach, klopfte es an die Thür; der kleine Diener trat ein, um Fräulein Mary Sutherland anzumelden, welche hinter seiner dünnen schwarzen Gestalt auftauchte, wie ein Kauffahrteischiff mit aufgespannten Segeln hinter einem zierlichen Kutter. Sherlock Holmes begrüsste die Fremde mit der ihm eignen Gewandtheit, schloss die Thür, bot ihr einen Lehnsessel an und musterte sie auf seine gewohnte, durchdringende und scheinbar zerstreute Art.
„Finden Sie nicht, mein Fräulein,“ fragte er, „dass das viele Maschinenschreiben Sie bei Ihrer Kurzsichtigkeit ein wenig angreift?“
„Allerdings war das im Anfang der Fall,“ erwiderte sie, „jetzt aber weiss ich, wo die Buchstaben sind, ohne hinzusehen.“ Plötzlich wurde ihr die ganze Tragweite seiner Worte klar, sie erschrak heftig, und Angst und Staunen malten sich auf ihrem breiten, gutmütigen Gesicht. „Sie haben schon von mir gehört, Herr Holmes,“ rief sie aus, „wie könnten Sie das sonst wissen?“
„Lassen Sie es gut sein,“ rief Holmes lachend, „das gehört zu meinem Geschäft. Ich lege es darauf an, manches zu sehen, was andern entgeht. Wäre dem nicht so, weshalb kämen Sie zu mir, um sich Rat zu holen?“
„Ich kam zu Ihnen, Herr Holmes, weil Frau Etherege mir von Ihnen erzählte; Sie fanden ihren Mann so leicht auf, während die Polizei und alle Welt ihn schon für tot