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Texten erhob sich immer wieder, gerade auf der Grundlage des universalen, auf persönlichen Entscheidungen beruhenden Anspruchs der Christen. Die Bereitschaft zum Umgang mit sprachlicher Vielfalt gehört vielleicht zu den wichtigsten Hinterlassenschaften des Christentums an die multilinguale Welt Europas.

       3.4 Prozeduralität

      Letzter Punkt und scheinbar etwas ganz anderes: die Prozeduralität, speziell die Verfahrensförmigkeit bei Personalentscheidungen, namentlich der Bestellung von Bischöfen. Das Amt des monarchischen Bischofs, das für weite Teile der Kirchengeschichte prägend bleiben sollte, bildete sich in vielen Gemeinden während des 2. respektive 3. Jahrhunderts heraus.32 Zugleich entwickelten sich Verfahren der Bestellung des Bischofs. Die aus zeitgenössischer Sicht naheliegende Lösung, die Erblichkeit des monarchischen Amtes, lehnten die Christen weithin ab, wahrscheinlich nicht zuletzt aufgrund ihrer Zweifel am Wert der Kinderzeugung. Manches erprobten sie: beispielsweise Losung, Ernennung durch den Vorgänger, Akklamation. Dabei entwickelte sich allmählich eine Prozedur, die verschiedene Elemente einschloss: die Auswahl durch Kleriker, die Akklamation durch das Volk und die Kooptation in der Form der Weihe durch andere Bischöfe. So entstand eine relativ große Verhinderungsmacht einzelner Gruppen, die eigentliche Personalentscheidung lag beim Klerus. Von diesen Regeln wichen Gemeinden oft ab, aber prinzipiell war ihre Gültigkeit anerkannt, und man konnte sich zunehmend darauf berufen. Grundlegend neu waren derartige komplexe Prozeduren der Amtsbestellung übrigens nicht. Ähnlich komplizierte, mehrstufige, auf verschiedenen Modi der Personalentscheidung beruhende Verfahren wurden in der Kaiserzeit praktiziert, etwa bei der weiterhin das Volk symbolisch einbeziehenden Wahl der hohen Magistrate. Über die christliche Kirche und später die kaiserliche Gesetzgebung wurde aber der Gedanke der Verfahrensförmigkeit bewahrt.

      Verfahrensförmigkeit gilt als ein Charakteristikum der modernen Gesellschaft, besonders in der Darstellung der Systemtheorie.33 Doch darf man die Unterschiede nicht übersehen: Niklas Luhmann etwa unterstreicht, dass moderne Prozeduren nicht darauf abstellen, das richtige Resultat zu erzielen, sondern darauf, in richtiger Weise zu verfahren, gemäß bestimmten Regeln, so dass das Resultat als legitim gelten kann. Und hier liegt ein grundlegender Unterschied zur christlichen Antike: Christen wie etwa Cyprian, der ausführlich über Bischofsbestellung spricht, betrachteten Prozeduralität nicht als etwas, was einen Wert in sich trägt: Für den Karthager sind bestimmte Prozeduren ein erfolgversprechender Weg, um wahre Resultate zu erreichen, Gottes Urteil zu ergründen. Die Regeln leiteten er und seine Mitbischöfe in ihrem Konzilsschreiben vom Alten Testament ab und sprechen ihnen eine divina auctoritas zu.34 Prozeduralität entwickelte sich unter dem Gesichtspunkt des Wahrheitsanspruchs, eine Legitimation durch Verfahren war demgegenüber nachgeordnet. Daher konnte man sich beim konstitutiven Akt vom Verfahren dispensieren. So galt es als rühmlich, dass im Falle des Ambrosius von Mailand eine Kinderstimme die Akklamation als Bischof ausgelöst habe. Kaiser Justinian (527–565) setzte sich bei der Bischofsbestellung mehrfach über die Gesetze hinweg, die er selbst erlassen hatte, indem er bestimmte Bischöfe einfach ernannte, deren Eignung er als offenkundig betrachtete, legte aber Wert darauf, das im Nachhinein wieder in Ordnung zu bringen, indem er das Verfahren, das übergangen worden war, im Nachhinein vollzog und somit seine Bedeutung bewahrte.35 Das Bewusstsein der Bedeutung von Prozeduren wurde unabhängig von christlichen Konzepten der Wirkung des Heiligen Geistes in vielfältiger Weise gerade durch moderne westliche Staaten adaptiert.

       4. Antike Christen und ihre Affinität zur Selbstbeschreibung der westlichen Moderne

      Mit meinen Überlegungen habe ich versucht, vier heuristisch getrennte Bereiche zu identifizieren, in denen die Affinität früher Christen zu dem, was heute intuitiv mit der westlichen Moderne verbunden wird, besonders sichtbar erscheint: Individualisierung des Glaubens; universaler Wahrheitsanspruch; Zwang zum Reflexivwerden und Prozeduralität. Meine Behauptung ist nicht, diese evolutionären Errungenschaften hätten nur durch das Christentum in die Welt kommen können; oft findet sich Ähnliches schon vorher in nicht-christlichen, gerade philosophischen, namentlich stoischen Kontexten. Ich spreche daher bewusst nicht von spezifisch christlichen Werten. Vielmehr gehe ich davon aus, dass bei bestimmten Konstellationen christliche Überzeugungen, wie sie sich historisch entwickelten, in eine entsprechende Richtung wirkten. Eine der Konstellationen scheint die Moderne Lateineuropas zu sein.

      Was waren Gründe für diese Affinität? Zwei Hinweise möchte ich geben, ohne behaupten zu können, eine Antwort gefunden zu haben. Man kann, den Begriff des Erbes aufgreifend, den ich am Anfang mehrfach erwähnt habe, von einer Rezeption ausgehen. Das Bild des Erbes gilt als altbacken, hat aber einen großen Vorteil. Denn es ist unter einem Gesichtspunkt besonders prägnant: Ein Erbe steht nicht einfach für sich; es muss vielmehr angenommen, angeeignet werden und unterliegt damit Veränderungsprozessen. Das Erbe der antiken Christen war in einem gewaltigen Textcorpus gespeichert und in bestimmten Praktiken sedimentiert. Gewiss war diese Auswahl einseitig. Vieles von dem, was für Traditionen der Großkirche und des Mönchtums als gefährlich galt oder auch nur ohne Belang war, ging verloren, doch im Bewahrten begegnet noch eine beachtliche Vielfalt, was die Inhalte angeht und ebenso den Argumentationsstil. Kein Zufall ist es, dass innerkirchliche Reformbewegungen sich immer wieder auf antike, für Christen autoritative Texte beziehen konnten, seien sie in der Bibel überliefert oder außerhalb. Allerdings geht es hierbei um Potentiale, die bestimmten Texten und Praktiken von Christen innewohnen und nicht um das Wesen des Christentums, über das ich als Historiker nichts zu sagen weiß. Bezeichnend lässt sich oft Gegensätzliches mit ›dem‹ Christentum begründen – über viele Jahrhunderte wurde die christliche Religion gerade nicht als eine Frage der individuellen Entscheidung interpretiert; namentlich im Osten, etwa in Armenien oder Georgien, entstanden ferner Interpretationen christlicher Lehren, die ethnizistisch ausgerichtet waren. Wir haben es viel mit Ambivalenzen und Widersprüchen zu tun. Und dennoch: Immer wieder stießen diese Texte Individualisierungsprozesse an. Wünschenswert wäre es, die Entwicklung, Rezeption und Aneignung all dieser Punkte über die Jahrhunderte nachzuzeichnen – das übersteigt aber die Kräfte eines Einzelnen bei Weitem.

      Ferner könnten typologische Gemeinsamkeiten zwischen kaiserzeitlicher und moderner Gesellschaft die Aufnahmebereitschaft verstärkt haben, in dem Sinne, dass diese Epochen gewisse strukturelle Analogien aufweisen, die ähnliche Entwicklungen induzierten. Christen gaben sich mit der Ordnung der Gesellschaft nicht zufrieden, sondern transzendierten sie gerade; wie in der Moderne galt die gegebene Gesellschaft nicht als selbstverständlich. Das konnte in Rückzug münden, aber auch in Kritik und erlaubte es dem Einzelnen immer wieder, sich unabhängig von anderen gesellschaftlichen Statuszuschreibungen zu sehen und um seine Anerkennung als religiöse Autorität zu kämpfen. Das impliziert, dass Christen einen religiösen Bereich von einem politischen unterschieden. Im religiösen Bereich galten spezifische Semantiken und Normen, es entstanden spezifische Hierarchien.

      Man beobachtet mithin Ansätze zur Ausdifferenzierung eines Religionssystems, die in der Spätantike zwar erheblich reduziert, aber nicht zum Verschwinden gebracht wurden, die jedoch vor allem in verschiedener Weise gespeichert wurden und so im Sinne des Konzepts der Exaptationen zu späteren Zeiten – und durchaus nicht nur in einer Phase der europäischen Geschichte – ihre Wirkung entfalten konnten. Die Affinität zwischen Äußerungen früher Christen und solchen der Moderne lässt sich so möglicherweise durch einen Vergleich der Strukturen bestätigen, wenngleich die Gefahr groß ist, dass man es hier mit falschen Brüdern zu tun bekommt, wie es etwa im Falle der Religionsfreiheit oder der Prozeduralität zu zeigen versucht wurde.

      Die Dynamik der westeuropäischen Moderne wäre demnach weniger wahrscheinlich gewesen ohne einige Semantiken, die in frühen christlichen Texten gespeichert waren und die stets schon eine nichtchristliche Vorgeschichte haben. Einige Beispiele, mehr war nicht möglich, seien angeführt: Man konnte unter Christen Neues, anderes erproben, man konnte seiner Herkunft abschwören; Polis und res publica verloren ihre Bedeutung, individuelle Entscheidungen erhielten ein neues Gewicht. Gleichheit und Freiheit, zwei Schlüsselbegriffe der Moderne, lassen sich christlich begründen. Doch das christliche Erbe besaß Gültigkeit nicht für sich allein, sondern bedurfte der Aneignung,

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