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bei jedem Tanz der Brauch ist, so war er doch dazu bereit, ihnen diesen Kuss zu geben, weil er dadurch das Ansehen erhielt aus dem Knabenalter herausgetreten zu sein. Es wäre ihm sogar lieb gewesen, wenn sich die Mädchen gegen seinen Kuss etwas gesträubt hätten, weil sie dies den erwachsenen Burschen gegenüber zu tun pflegten. Aber das fiel ihnen gar nicht ein; selbst die größten nahmen ihn lachend beim Kragen, um sich küssen zu lassen, was ihn übrigens etwas verdross.

      Ein einziges Mal hatte Sylvinet ihn tanzen sehen, und hatte dabei den größten Verdruss empfunden. Als er sah, wie Landry eine der Töchter des Vater Caillaud küsste, geriet er so in Zorn, dass er vor Eifersucht weinte und den Brauch gradezu unanständig und unchristlich fand.

      So oft also Landry sein Vergnügen aus Freundschaft für seinen Bruder opferte, verbrachte er den Sonntag in wenig unterhaltender Weise. Dennoch verfehlte er nie sich zur bestimmten Zeit auf dem Zwillingshof einzufinden, in der Meinung Sylvinet werde ihm dafür erkenntlich sein, und der Gedanke seinen Bruder zufriedengestellt zu haben, ließ ihn gern ein wenig Langeweile verschmerzen.

      Als er nun aber eines Tages erfuhr, dass sein Bruder, der ihm im Laufe der Woche eine kleine Zänkerei angezettelt hatte, aus dem Hause fortgegangen war, um sich nicht mit ihm zu versöhnen, empfand er dies als eine tiefe Kränkung. Zum ersten Mal, seitdem er das Elternhaus verlassen hatte, ging er an einen einsamen Ort, im Verborgenen seine heißen Tränen zu vergießen, denn er hatte sich stets geschämt seinen Kummer vor seinen Eltern blicken zu lassen; auch fürchtete er den ihrigen, den sie vielleicht haben mochten, dadurch zu vermehren.

      Wenn jemand ein Recht gehabt hätte eifersüchtig zu sein, so wäre dies viel eher Landry gewesen, als Sylvinet. Dieser war es ja, den die Mutter am meisten liebte, und sogar der Vater Barbeau, wenn er auch eine heimliche Vorliebe für Landry empfand, zeigte sich Sylvinet gegenüber doch gefälliger und nachsichtiger. Dieses arme Kind wurde als das weniger kräftige und weniger verständige, auch am meisten verzogen, und man fürchtete sogar ihn zu ärgern. Da er in der Familie blieb, war ihm das bessere Los zugefallen, während sein Bruder statt seiner das Elternhaus verlassen und die Bürde des Dienens auf sich genommen hatte.

      Es war zum ersten Mal, dass der gute Landry sich dies alles klar machte, und zu der Erkenntnis gelangte, dass sein Zwillingsbruder durchaus ungerecht sei. Bis dahin hatte sein gutes Herz ihn darüber getäuscht, dass er das Unrecht seines Bruders nicht einsehen konnte. Statt eine Klage gegen diesen zu erheben, hatte er sich vielmehr selbst beschuldigt, dass er auch gar zu gesund sei, und mit zu übermäßigem Eifer der Arbeit und dem Vergnügen nachgehe, und dass er sich nicht wie sein Bruder darauf verstehe, sanfte Reden zu führen, oder zarte Aufmerksamkeiten zu ersinnen. Dieses Mal aber wusste er sich auch nicht der geringsten Kleinigkeit zu erinnern, womit er sich an der brüderlichen Liebe versündigt haben konnte. Ja, um an dem heutigen Tag nur kommen zu können, hatte er einer schönen Partie entsagen müssen, welche die Burschen von la Priche zum Krebsfang veranstalten wollten, und mit der sie schon die ganze Woche über beschäftigt gewesen waren. Sie hatten Landry sehr viel Vergnügen dabei in Aussicht gestellt, wenn er nur mit ihnen gehen wolle. Um seinen Bruder heute zu sehen, hatte er also einer großen Versuchung widerstehen müssen, und das will in diesem Alter viel sagen. Nachdem er sich tüchtig ausgeweint hatte und seine Tränen trocknete, hörte er ganz in seiner Nähe noch eine andere Person weinen, die dazwischen auch mit sich selbst sprach, wie dies die Frauen auf dem Lande häufig zu tun pflegen, wenn sie einen großen Kummer haben. Landry erkannte rasch, dass es seine Mutter war, und eilte zu ihr hin.

      »Ach! mein Gott«, sagte sie schluchzend, »wie vielen Kummer mir dieses Kind bereitet! Ich werde noch darüber zu Grunde gehen, das ist gewiss.«

      »Bin ich es, liebe Mutter, der dir so viele Sorgen macht?« rief Landry und fiel ihr um den Hals. »Wenn ich es bin, so strafe mich doch, aber höre auf zu weinen. Ich weiß nicht, wodurch ich dich betrübt haben könnte, aber das ist alles einerlei, ich bitte dich um Verzeihung.«

      In diesem Augenblick wurde es der Mutter klar, dass Landry keineswegs ein hartes Herz hatte, wie sie es oft geglaubt hatte. Sie schloss ihn gerührt in ihre Arme, und ohne selbst recht zu wissen, was sie tat, so sehr war sie vom Schmerz ergriffen, sagte sie ihm, dass sie sich über Sylvinet beklage und nicht über ihn. Was ihn betreffe, so habe sie sich einige Male ungerechten Vorstellungen über ihn hingegeben, und dafür tue sie ihm jetzt Abbitte. Wie es ihr scheine, sei Sylvinet daran toll zu werden, und sie sei in der größten Unruhe darüber, weil er vor Tagesanbruch fortgegangen sei, ohne auch nur das Geringste genossen zu haben. Die Sonne neigte sich jetzt dem Untergang zu, und er war noch immer nicht zurück. Um Mittag war er in der Richtung des Flusses gesehen worden, und schließlich fürchtete die Mutter, er könne sich gar hinein gestürzt haben, um seinem Leben ein Ende zu machen.

      Achtes Kapitel

      Dieser Gedanke, dass Sylvinet Lust gehabt haben könne, sich umzubringen, übertrug sich so leicht, wie eine Fliege sich in einem Spinngewebe verfängt, aus dem Vorstellungsvermögen der Mutter auf dasjenige Landrys hinüber. Er rannte hastig davon, um seinen Bruder aufzusuchen, und während er so dahin eilte, empfand er schweren Kummer und sprach zu sich selbst: »Vielleicht hatte die Mutter früher doch recht, wenn sie mir vorwarf, dass ich hartherzig sei. In dieser Stunde aber muss Sylvinet wohl ein schwer erkranktes Gemüt haben, dass er unserer armen Mutter und mir all diesen Schmerz bereiten kann.

      Er lief nach allen Richtungen hin, ohne ihn zu finden; abwechselnd rief er laut seinen Namen, aber keine Antwort erfolgte; er befragte alle, die ihm begegneten, aber niemand konnte ihm eine Auskunft geben. Endlich kam er an den Ort, wo die Wiese mit dem Schilfgrund lag; er ging hinein, weil er sich hier einer Stelle erinnerte, die Sylvinet ganz besonders bevorzugte. Diese befand sich da, wo der Fluss einen großen Einschnitt in das Erdreich hineingerissen, und dabei zwei oder drei Erlen entwurzelt hatte, die noch mit emporgestreckten Wurzeln quer über dem Wasser lagen. Der Vater Barbeau hatte sie nicht fortschaffen wollen; er gab sie preis; weil sie in der Art, wie sie gestürzt waren, das Erdreich noch mit ihren Wurzeln zurückhielten, und das kam ihm sehr gelegen, denn nicht ein einziger Winter verging, ohne dass das Wasser nicht einen großen Schaden in dieser Wiese angerichtet hätte; jedes Jahr wurde ein Stück vom Ufer mit fortgeschwemmt.

      Landry näherte sich also jenem Einschnitt, wie er und sein Bruder diese Stelle ihrer Schilfwiese zu benennen pflegten. Er nahm sich nicht die Zeit bis zu dem Winkel zu gehen, wo sie beide miteinander aus Rasenstücken, auf Steinen und Wurzelwerk gestützt, eine Treppe angelegt hatten. Er sprang gleich von oben hinunter, um so schnell wie möglich auf den Boden des Einschnittes zu gelangen, weil hier rechts vom Ufer so viel hohes Gesträuch und Kräuter wuchsen, dass sie über seinen Kopf hinaus ragten. Wenn sein Bruder auch hier gewesen wäre, so hätte er ihn, ohne hinein zu gehen, doch nicht entdecken können.

      In großer Aufregung betrat er jetzt diese Stelle, denn es kam ihm nicht mehr aus dem Sinn, was seine Mutter ihm gesagt hatte: dass Sylvinet mit dem Gedanken umgehe seinem Leben ein Ende zu machen. Er durchsuchte wiederholt das Dickicht, schlug gegen die hohen Binsen, rief laut Sylvinets Namen und pfiff dem Hund, der dem Bruder jedenfalls gefolgt war, denn man hatte ihn den ganzen Tag über im Hause nicht gesehen, so wenig wie seinen jungen Gebieter.

      Allein Landry mochte suchen und rufen, so viel er wollte, er war und blieb ganz allein an dieser Stelle. Da er ein Bursche war, der alles, was er tat, gründlich zu tun pflegte, und dabei auf alles bedacht war, was zweckdienlich sein konnte, untersuchte er die beiden Ufer, ob nicht irgendeine Spur von Fußstapfen zu entdecken sei, oder ob nicht das Erdreich an einer Stelle etwas mehr abgebröckelt war, als es sonst gewesen. Diese Untersuchung war ebenso traurig wie schwierig, denn es war etwa einen Monat her, dass Landry nicht mehr an diesem Ort gewesen war, und wenn er ihn auch so genau kannte, wie die eigne Hand, so vermochte er doch nicht herauszubringen, ob nicht irgendeine kleine Veränderung damit vorgegangen sei. Das ganze rechte Ufer war mit Gras bewachsen, und sogar auf dem Boden des Einschnittes waren überall aus dem Sand die Binsen und das Schilf so dicht emporgewuchert, dass auch nicht eine einzige Stelle von nur eines Fußes Breite aufzufinden war, wo man nach einer eingedrückten Spur hätte suchen können. Durch das viele Hin- und Hersuchen fand Landry indessen auf dem Boden die Fährte eines Hundes, und an einer anderen Stelle sogar das Gras so verdrückt, als ob Finot, oder irgendein Hund von derselben Größe sich dort niedergekauert

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