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drängte Hofrat Schmitz.

      „Nach Westerland ist die gnädige Frau noch nach Rimini gefahren und erst vor vier Wochen zurückgekommen. In dieser Zeit wüßte ich niemand, im Haus hat keiner verkehrt und mit wem die gnädige Frau außerhalb zusammengekommen ist, kann ich natürlich nicht wissen.“

      „Wir werden uns den Sänger, den Kurmann, näher ansehen müssen,“ meinte ärgerlich der Präsident.

      „Überflüssig,“ warf Demel ein. „Ich kenne Kurmann persönlich, er ist ein harmloser Bursch und hat heute zum erstenmal den Stolzing in den ‚Meistersingern‘ gesungen. Die Oper dauert von sieben bis nach elf Uhr.“

      Es war fast ein Uhr geworden, als der Präsident die Sitzung für beendet erklärte. In den frühesten Morgenstunden würde nach Fingerspuren geforscht und eine ganze Schar der tüchtigsten Beamten losgelassen werden:

      „Sie, Herr Horak, behalten die Führung!“

      Demel eilte in das Café Payr, stürzte in die Telephonzelle, diktierte für sein Blatt rasch einen Bericht, der die polizeilichen Meldungen ergänzte und erzählte dann dem Bankbeamten Egon Stirner, der ungeduldig auf ihn gewartet hatte, was er erfahren, wobei er aber die von der Zofe enthüllten Liebesgeheimnisse der unglücklichen Frau nicht preisgab.

      Schweigend, jeder in seine Gedanken versunken, saßen die beiden Herren noch eine Weile in dem Kaffeehaus und unwillkürlich dachte der Journalist, als er sich in dem Lokal umsah:

      „Welch grauenvolle Schicksale wohl alle diese geschminkten, forciert lustigen Mädchen in sich bergen, die im Kampf um seidene Strümpfe und scheinbares Wohlleben unaufhaltsam die Lebensleiter abwärts rutschen, bis sie eines Tages im Abgrund verschwinden, im Sumpf versinken!“ —

      4. Kapitel.

      Eine Familie im Abstieg.

      Wiens Entwicklung ist unorganisch, ohne Ziel und Zweck vor sich gegangen. Wien ist wohl die einzige Großstadt, die keine City, kein Wohnviertel hat, sondern ein Kunterbunt von Villen, Luxusbauten, Palästen, Mietkasernen, verfallenen Häusern, Baracken und Armeleutequartieren bildet. In ein und derselben Straße hausen Millionäre und Proletarier, stehen uralte niedrige Häuser mit Gärten und protzige fünfstöckige Talmipaläste mit Lift und Dampfheizung, Palais aus dem siebzehnten Jahrhundert und abscheulich moderne Miethäuser mit ein- und zweizimmerigen Wohnungen für kleine Leute.

      In dieser Beziehung repräsentiert die Melchiorgasse die ganze Stadt. In ihr leben Markthelfer und Gemüsehändler, die um zwei Uhr morgens mit ihren Karren alte Häuser, hinter denen endlose Höfe mit Stallungen sich befinden, verlassen, um auf den Markt zu fahren, in ihr rollen fürstliche Automobile vor die hohen geschlossenen Portale feudaler, wenn auch von außen unscheinbarer Paläste, es gibt da Zinshäuser aus der Gründerzeit und moderne Bureaugebäude, die keine Wohnungen enthalten.

      Genau gegenüber dem Haus Nummer 55, in dem sich der noch immer unaufgeklärte Mord ereignete, stoßen drei Häuser aneinander, die drei Welten verkörpern. Ein kleines, ebenerdiges Haus mit winzigen Fenstern, in die man, wenn sie nicht immer verschlossen wären, bequem von der Straße aus einsteigen könnte, und nebenan ein vierstöckiges Haus, das erbarmungslose Habgier und Profitwut erbaut haben. In jedem Stockwerk acht Wohnungen mit einem gemeinsamen Abort und einem Wasserauslauf auf dem Korridor. Jede Wohnung nur aus einer finsteren Küche und einer anstoßenden Kammer bestehend. Und Küche wie Kammer mit Menschen gefüllt, die in alten, wackeligen Betten aus braunem Tannenholz, auf Strohsäcken und halb demolierten Diwans schlafen. Das sind die Häuser, die dem Hausherrn im Frieden bis zu fünfzehn Prozent des angelegten Kapitals trugen, mehr als doppelt so viel also, wie die Häuser, die für die Wohlhabenden bestehen.

      Das andere, das kleine Häuschen, bietet, wenn man den Toreingang passiert hat, Überraschungen. Man kommt in einen großen, rechteckigen Hof mit einem alten, nicht mehr in Betrieb befindlichen Ziehbrunnen und einem Kastanienbaum. Links und rechts ist der Hof von Türen und Fenstern flankiert, die in kleine, aber nicht unbehaglich erscheinende Wohnungen führen. Und verläßt man den Hof nach rückwärts durch ein zweites Tor, so kommt man wieder in einen Hof, und von diesem in einen dritten. Überall Wohnungen, Werkstätten, Ställe, feuchte Wäsche zum Trocknen aufgehängt, Geranien und Levkojen in zerbrochenen Töpfen vor den Fenstern, Lärm, Hämmern, Musik aus heiseren Grammophonen, Kinderweinen, Zanken, mitunter ein gellender Aufschrei, das Dröhnen dumpfer Schläge, rauhes Lachen, ein sentimentales Lied mit obszönem Kehrreim.

      Eine kleine Stadt für sich, ein ganzes Viertel der Armut und sozialen Zurückgebliebenheit.

      Das vierstöckige Haus mit den erbärmlichen Wohnungen trägt die Nummer 54, das kleine mit den vielen Höfen 56 und neben diesem liegt das Haus Nummer 58, das wieder einen anderen Typus repräsentiert. Es stammt aus den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, einer Zeit also, da noch recht solid gebaut wurde, die Zimmer groß, hoch, die Küchen geräumig, die Kachelöfen breit und behaglich waren. So dick und massiv waren damals die Mauern, daß diese Häuser die Entwicklung der Gasbeleuchtung nicht hatten mitmachen können, da es kaum möglich gewesen wäre, die Rohre einzuziehen. Erst kurz vor dem Krieg hatte der Hausherr, der einer alten Wiener Familie angehörte und ein wenig Herz für seine Parteien besaß, elektrisches Licht einführen lassen.

      Jedes der drei Stockwerke beherbergte nur drei Wohnungen mit je drei Zimmern, von denen eines sehr groß war, einer geräumigen Küche mit einer anstoßenden Kammer für das Dienstmädchen, einer in das Vorzimmer einmündenden Speisekammer und einem unverhältnismäßig großen Toiletteraum. Die Namen auf den Türschildern bewiesen, daß die neue Zeit hier noch nicht ihren Einzug gehalten hatte. Ein Generalmajor a. D., ein Hofrat aus dem Verkehrsministerium, ein pensionierter Sektionsrat, ein Privatgelehrter und ein aktiver Universitätsprofessor — das waren die ersichtlich soliden Bewohner eines Hauses, das bescheidenen Wohlstand auszuatmen schien. Die bittere Armut, die hinter den starken Mauern herrschte, die hoffnungslose Verzweiflung über eine Zeitentwicklung, der man nicht gewachsen war, kannte nur der Eingeweihte, in erster Linie der alte Hausmeister und dessen redselige brave Frau, die beide mit Schrecken miterlebt hatten, wie ihre „Herrschaften“ in einem Zeitraum von nicht einmal zehn Jahren in abgrundtiefes Elend geraten waren. Und immer wenn der Althändler wieder aus irgendeiner Wohnung einen Perserteppich, eine köstliche Biedermeiergarnitur, eine seltsame Standuhr, ein Gemälde oder gar eine Kiste mit Büchern fortschleppte, seufzte der Hausmeister tief auf, stieß den braunen Daumen in den Pfeifenkopf und sagte zu seiner Frau:

      „Du, Alte, der Hunger geht um im Haus.“

      Im letzten, dem dritten Stockwerk, betrat abends ein junges schlankes Mädchen die Wohnung, deren Türschild den Namen Alois von Rumfort, k. k. Regierungsrat, trug. Das „von“ war allerdings durchgestrichen, ebenso das „k. k.“ und dem Regierungsrat war mit Tinte ein a. D. hinzugefügt. Aber auch das stimmte nicht, denn der Regierungsrat Alois Rumfort war schon vor einem Jahre gestorben.

      Es war ein abscheulicher, naßkalter Herbsttag, die weichen, großen Schneeflocken verwandelten sich, bevor sie noch den Erdboden erreichen konnten, in Wasser, und das junge Mädchen triefte von Nässe. Obwohl es sich die Schuhe auf dem zerrissenen Fußteppich vor der Wohnungstüre abgestreift hatte, verbreitete es im Vorzimmer und dann im Wohnzimmer, in dem sämtliche Familienmitglieder versammelt waren, feuchte Flecken auf dem Fußboden.

      Vier Augenpaare wandten sich erwartungsvoll, gespannt dem jungen Mädchen zu als es mit einem müden, leisen „Guten Abend“ das Zimmer betrat. Am ungeheizten Ofen lehnte ein alter, großer Herr mit schlohweißem Haar, buschigen Augenbrauen und roten Backen, bei dem runden Tisch saß eine blasse Frau in mittleren Jahren mit vergrämten Zügen und leicht geröteten Augen über eine Flickarbeit gebeugt, während ein Knabe von elf Jahren und ein Mädchen von dreizehn Jahren mit Schulaufgaben beschäftigt waren. Und diese vier Personen sahen bange auf, als Grete das Zimmer betrat.

      Grete kam den Fragen voraus. Während sie die nasse, schwarze Jacke und den ärmlichen, zerdrückten, von Wasser triefenden Hut ablegte, sagte sie lächelnd:

      „Gott sei Dank, ich habe eine Monatsgage als Vorschuß bekommen. Sechshunderttausend, sie werden mir in Raten von hunderttausend monatlich abgezogen.“

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