Скачать книгу

er machte. Sie ließ den Blick schweifen. Noch immer sah sie die Löcher in der Straße, wo die Jugendlichen Pflastersteine herausgerissen hatten, um damit die Polizei zu bewerfen, doch nichts erinnerte mehr an die Leiche. Sie nahm an, dass die Polizei auch den Container mit Küchenabfall geleert und nach möglichen Spuren durchsucht hatte. Sie drehte eine Runde und starrte auf den Asphalt, doch der Ort schien wie leergefegt. Nicht einmal ein Stückchen Eispapier oder ein Zigarettenstummel waren mehr da.

      Sie schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, wie die Frau hier gelandet war. In einem Auto, dachte sie. Wer immer sie hier zurückgelassen hatte, musste mit einem Wagen gekommen sein. Vielleicht hatte jemand etwas gesehen. Vielleicht gab es irgendwo einen Zeugen.

      Vielleicht, vielleicht, vielleicht, dachte sie, drehte sich um und ging zum Rand des Hafenbeckens. Sie atmete gierig die frische Luft ein, während sie in das graugrüne Wasser starrte. Irgendjemand hatte etwas Essbares ins Wasser geworfen. Eine Gruppe Möwen hatte sich darum versammelt, sie stießen gellende Schreie aus, die sich mit dem Knirschen des Tauwerks mischten, das das schaukelnde Diskoschiff auf dem Wasser erzeugte.

      Etwas weiter entfernt saß ein Angler auf einem kleinen Klappstuhl. Seine Rute hing schlapp ins Wasser, und es sah nicht so aus, als erwartete er, wirklich etwas zu fangen. Neben ihm standen ein weißer Eimer und eine Tasche mit Geräten. Weiter entfernt lag ein Frachtschiff am Kai.

      So sollte es sein, dachte Dicte. Ein stiller, friedlicher Sommermorgen, an dem die Sonne noch nicht so stark brannte und man die Angel ausgeworfen hatte und sich auf nichts anderes konzentrierte, während man dasaß und über das Wasser blickte.

      Sie versuchte, sich in den Angler hineinzuversetzen; sich von dem Schwappen der Wellen hypnotisieren zu lassen und die Angst zu dämpfen, die irgendwo in ihr lauerte. Ihr Leben war so ganz anders, Ruhe und Frieden waren so weit weg. Rote Wellen stiegen vor ihrem inneren Auge auf, und für einen Augenblick sah sie den blutigen Unterleib vor sich, während eine grausame Vorahnung sich ihr aufdrängte. Sie würde in diesen ganzen Morast aus Wut und Aggressionen hineingezogen werden. Was immer es war, sie würde Teil davon werden, und es würde sie dort treffen, wo es ihr am allerwenigsten gefiel.

      »Feigling.«

      Ihre Lippen formten das Wort, und eine Brise schien mit ihm zu spielen und es mitzunehmen, dass es über den Hafen schwebte. Sie ging zurück zum Auto und fuhr in die Redaktion.

      10

      »Das ist der böse Blick.«

      Aziz beobachtete seine Mutter, die an der Küchenspüle stand und mit einem Arm in der Luft herumfuchtelte. Sie war klein und rund wie seine Schwester, während er die hohe Gestalt seines Vaters geerbt hatte. Doch nicht zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass er, der Erstgeborene, das Gemüt seiner Mutter und Nazleen das des Vaters mitbekommen hatte. Während er verschlossen und nachdenklich war wie seine Mutter und nie mehr sagte als notwendig, war Nazleen diejenige, die Worte mit Leidenschaft wie Waffen einsetzte.

      Nicht dass seine Mutter jetzt, während sie Gemüse putzte, besonders verschlossen und nachdenklich war. Ihre Wortkargheit bedeutete auch nicht, dass sie fügsam und zurückhaltend war. Wenn sie sich erst etwas in den Kopf gesetzt hatte, war es unmöglich, sie davon abzubringen. So wie jetzt.

      »Das ist alles Zufall«, sagte Aziz. »Das hat nichts mit dem bösen Blick zu tun.«

      Seine Mutter ließ sich nicht beirren.

      »Du hast Erfolg«, bemerkte sie über die Schulter, während sie routiniert eine Mohrrübe schälte. »Es läuft gut mit dem Studium, du bist deinen Eltern ein guter Sohn, und viele süße Mädchen, die eine gute Partie wären, stehen Schlange, um dich als Ehemann zu bekommen.«

      Aziz tat sein Bestes, neutral auszusehen. Allein der Gedanke an andere Mädchen als an Rose brachte ihn ins Schwitzen. Er wusste, dass seine Eltern darauf vertrauten, dass er einmal ein moslemisches Mädchen pakistanischer Herkunft heiraten würde. Er wusste auch, dass sie eine ganz Bestimmte im Kopf hatten. Sie hatten das nicht zu entscheiden, aber es war nicht gerade einfach, ihnen das zu erklären.

      Sie gab die Möhre in die Schale zu den anderen. Sie fiel mit einem kleinen Plumps ins Wasser.

      »So viel Unheil auf einmal«, sagte sie dramatisch.

      Mit dem Schälmesser in der Hand begann sie, die Unglücksfälle an ihren fleischigen Fingern abzuzählen. Wie immer, wenn sie am Spülbecken arbeitete, hatte sie die goldenen Ringe ausgezogen und auf die Fensterbank gelegt.

      »Erst der Autounfall, dann bist du die Treppe hinuntergefallen und hast dir ein Loch in den Kopf geschlagen, dann hast du deine Brieftasche mit hundert Kronen verloren und jetzt das.«

      Sie verdrehte die Augen und machte mit beiden Händen eine beschwörende Geste, sodass ein Stück Mohrrübenschale vom Messer auf den Linoleumboden fiel. Aziz bückte sich und hob es auf.

      »Diese Frau, der man das Kind weggenommen hat – möge Allah uns da raushalten –, diese Frau, die man im Hafen gefunden hat.«

      »Ich habe damit nichts zu tun. Wir wollten nur in die Disko«, verteidigte er sich.

      Aber er hatte die Botschaft verstanden. Wie die meisten Moslems vertrat auch seine Mutter die Ansicht, dass der Tod Unglück mit sich brachte, und wenn man irgendwie mit einem toten Menschen in Verbindung gebracht wurde, war das eine Katastrophe.

      »Ich habe eine Opfergabe bestellt«, sagte seine Mutter bestimmt und griff entschlossen nach der nächsten Mohrrübe. »Ich habe mit deinem Vetter in Pakistan vereinbart, dass ich ihm hundert Kronen schicke, damit er zwei Ziegen opfern und das Fleisch in deinem Namen an die Armen verteilen kann.«

      Aziz stöhnte. Aber es war sinnlos zu protestieren, das wusste er aus Erfahrung. Außerdem machte es nichts, wenn ein paar arme Teufel Ziegenfleisch auf seine Rechnung bekamen.

      »Und dann habe ich noch einen Talisman bestellt«, sagte sie schließlich. »Den musst du immer tragen. Er wird dich vor dem Bösen beschützen.«

      »Das hilft nicht. Ich glaube nicht an so etwas«, sagte er.

      »Natürlich hilft das.«

      Er gab es auf, weiter zu protestieren. Es würde auch nichts bringen. Er konnte genauso gut akzeptieren, dass einer der arabischen Zauberer, die viel Geld damit verdienten, Amulette für gutgläubige moslemische Mütter herzustellen, wieder einmal ein Opfer gefunden hatte. Dieser Aberglaube war nun mal nicht auszurotten. Aber es ärgerte ihn hundertmal mehr als das mit den beiden Ziegen.

      Er setzte sich an den Küchentisch und sah eine Weile aus dem Fenster. Er versuchte, seine Gedanken unter Kontrolle zu bekommen und nicht zu viel an Samstagnacht zu denken und an das, was er gesehen hatte. Da war er doch lieber der gute Sohn, nahm Talismane an und hörte sich die Ermahnungen seiner Mütter an. Selbst Nazleens religiöse Predigten waren besser als die Gedanken, die in seinem Kopf hämmerten und ihm den Schädel zu zerschmettern drohten.

      »Hast du Hunger?«

      »Nicht wirklich.«

      Seine Mutter war am Spülbecken fertig und manövrierte ihre breite Gestalt zum Kühlschrank hinüber, aus dem sie einen Teller holte.

      Sorgfältig griff sie nach einem Messer und schnitt eine Scheibe Kuchen ab. Sie goss kalten Saft in ein Glas und schob das Ganze vor ihn hin, bevor er Protest einlegen konnte.

      »Du brauchst etwas auf die Rippen. Du bist viel zu dünn.«

      Er musste lächeln. In ihren Augen befand sich jeder, der nicht ihr selbst glich, im Zustand gefährlicher Unterernährung. Sie nahm sich selbst einen Teller voll und setzte sich hin, während sie den süßen Kuchen genüsslich in sich hineinschaufelte.

      Eine überwältigende Zärtlichkeit stieg in ihm auf, und er ertappte sich bei dem Wunsch, den Augenblick festhalten zu können und alles andere für immer auszublenden. Sie war seine Mutter. Nichtsahnend saß sie hier, zufrieden und stolz auf ihren großen Sohn, der an der Universität studierte und es einmal sehr viel weiter bringen sollte als sie und ihr Mann – sein Vater. Denn das musste man ihnen lassen. Im Gegensatz zu so

Скачать книгу