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      Das Herz stand ihm fast still, und ein nervöses Zittern überkam ihn, als er sich einem kolossalen Gebäude näherte, das mit der einen Seite nach dem Kanal, mit der andernnach der . . . straße zu lag. Dieses Haus hatte lauter kleine Wohnungen, in denen allerlei einfache Leute wohnten: Schneider, Schlosser, Köchinnen, Deutsche verschiedenen Berufes, alleinstehende Mädchen, kleine Beamte usw. Durch die beiden Haustore und auf den beiden Höfen des Hauses war ein fortwährendes Kommen und Gehen. Hier gab es drei oder vier Hausknechte zur Aufsicht. Der junge Mann war sehr damit zufrieden, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte gleich vom Tore aus unbemerkt rechts eine Treppe hinauf. Die Treppe war dunkel und eng, ein „Wirtschaftsaufgang“; aber er hatte dies alles schon studiert und kannte es, und diese ganze Örtlichkeit gefiel ihm: in solcher Dunkelheit war selbst ein neugierig forschender Blick nicht weiter gefährlich. ,Wenn ich mich jetzt schon so fürchte, wie würde es dann erst sein, wenn es wirklich zur Ausführung der Tat selbst käme?‘ dachte er unwillkürlich, während er zum dritten Stock hinaufstieg. Hier versperrten ihm Möbelräumer, entlassene Soldaten, den Weg, die aus einer Wohnung Möbel heraustrugen. Er hatte schon früher in Erfahrung gebracht, daß hier eine deutsche Beamtenfamilie wohnte. ,Also dieser Deutsche zieht jetzt aus; folglich ist für einige Zeit im dritten Stock an diesem Aufgang und an diesem Treppenabsatz die Wohnung der Alten als einzige bewohnt. Das ist günstig . . . für jeden Fall‘, überlegte er wieder und klingelte an der Tür der Alten. Die Glocke rasselte schwach, wie wenn sie aus Blech wäre statt aus Messing. In solchen großen Mietshäusern mit diesen kleinen Wohnungen findet man fast immer solche Türklingeln. Er hatte den Ton dieser Glocke schon vergessen, und nun war es, als ob dieser besondere Ton ihn auf einmal an etwas erinnerte und es ihm wieder klar vor die Seele brächte . . . Er fuhr zusammen; seine Nerven waren doch schon recht schwach geworden. Es dauerte nicht lange, da wurde die Tür einen schmalen Spalt weit geöffnet; durch diesen Spalt hindurch betrachtete die Bewohnerin den Ankömmling mit offenkundigem Mißtrauen; von ihr waren nur die aus der Dunkelheit hervorfunkelnden Augen zu sehen. Aber da sie auf dem Treppenabsatz eine Menge Menschen sah, faßte sie Mut und öffnete die Tür ganz. Der junge Mann trat über die Schwelle in ein dunkles Vorzimmer, das durch eine Bretterwand in zwei Teile geteilt war; hinter dieser Wand befand sich eine winzige Küche. Die Alte stand schweigend vor ihm und blickte ihn fragend an. Es war ein kleines, verhutzeltes Weib von etwa sechzig Jahren, mit scharfen, tückischen, kleinen Augen und kleiner, spitzer Nase; eine Kopfbedeckung trug sie nicht. Das hellblonde, nur wenig ergraute Haar war stark mit Öl gefettet. Um den dünnen, langen Hals, der mit einem Hühnerbeine Ähnlichkeit hatte, hatte sie einen Flanellappen gewickelt, und auf den Schultern hing trotz der Hitze eine ganz abgetragene, vergilbte Pelzjacke. Die Alte hustete und räusperte sich alle Augenblicke. Der junge Mann mußte sie wohl mit einem eigentümlichen Blick angesehen haben; denn in ihren Augen funkelte auf einmal wieder das frühere Mißtrauen auf.

      „Mein Name ist Raskolnikow, Student; ich war schon einmal vor einem Monat bei Ihnen“, beeilte sich der junge Mann mit einer leichten Verbeugung zu sagen; denn es fiel ihm ein, daß er sehr liebenswürdig sein müsse.

      „Ich erinnere mich, Väterchen; ich erinnere mich recht gut, daß Sie hier waren“, erwiderte die Alte bedächtig, hielt jedoch dabei weiter ihre fragenden Augen unverwandt auf sein Gesicht geheftet.

      „Nun also . . . ich komme wieder in einer solchen Angelegenheit“, fuhr Raskolnikow fort, etwas befangen und verwundert über das Mißtrauen der Alten.

      ,Aber vielleicht ist sie immer so, und ich habe es das erstemal nur nicht beachtet‘, dachte er mit einem unangenehmen Gefühl.

      Die Alte schwieg ein Weilchen, wie wenn sie etwas überlegte, dann trat sie zur Seite und sagte, indem sie auf die ins Zimmer führende Tür zeigte und dem Besucher den Vortritt ließ:

      „Treten Sie ein, Väterchen.“

      Das kleine Zimmer, in welches der junge Mann eintrat war gelb tapeziert; an den Fenstern hingen Musselingardinen; auf den Fensterbrettern standen Geranientöpfe; in diesem Augenblick war das Zimmer von der untergehenden Sonne hell erleuchtet. ,Die Sonne wird also auch dann so scheinen!‘ dachte Raskolnikow unwillkürlich und ließ einen schnellen Blick über das ganze Zimmer gleiten, um die Lage und Einrichtung möglichst kennenzulernen und sich einzuprägen. Etwas Besonderes war im Zimmer nicht zu sehen. Das Mobiliar, durchweg sehr alt und aus gelbem Holze, bestand aus einem Sofa mit gewaltiger, geschweifter hölzerner Rückenlehne, einem ovalen Tische vor dem Sofa, einem Toilettentisch mit einem Spiegelchen am Fensterpfeiler, einigen Stühlen an den Wänden und zwei oder drei billigen, gelb eingerahmten Bildern, welche deutsche Fräulein mit Vögeln in den Händen darstellten — das war die ganze Einrichtung. In der Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbilde das Lämpchen. Alles war sehr sauber: die Möbel und die Dielen waren blank gerieben; alles glänzte nur so. ,Das ist Lisawetas Werk‘, dachte der junge Mann. In der ganzen Wohnung hätte man kein Stäubchen finden können. ,Bei boshaften alten Witwen ist solche Reinlichkeit häufig‘, fuhr Raskolnikow in seinen Überlegungen fort und schielte forschend nach dem Kattunvorhang vor der Tür nach dem zweiten kleinen Zimmerchen, wo das Bett und die Kommode der Alten standen; in dieses Zimmer hatte er bisher noch nicht hineinschauen können. Die ganze Wohnung bestand nur aus diesen beiden Zimmern.

      „Was wünschen Sie?“ fragte die Alte in scharfem Tone, nachdem sie ins Zimmer getreten war und, wie vorher, sich gerade vor ihn hingestellt hatte, um ihm genau ins Gesicht blicken zu können.

      „Ich bringe ein Stück zum Verpfänden. Da ist es!“

      Er zog eine alte flache silberne Uhr aus der Tasche. Auf dem hinteren Deckel war ein Globus dargestellt. Die Kette war aus Stahl.

      „Das frühere Pfand ist auch schon verfallen. Vorgestern war der Monat abgelaufen.“

      „Ich will Ihnen für noch einen Monat Zinsen zahlen. Haben Sie noch Geduld.“

      „Es steht bei mir, Väterchen, ob ich mich noch gedulden oder Ihr Pfand jetzt verkaufen will.“

      „Was geben Sie mir auf die Uhr, Aljona Iwanowna?“

      „Sie kommen immer nur mit solchen Trödelsachen, Väterchen. Die hat ja so gut wie gar keinen Wert. Auf den Ring habe ich Ihnen das vorige Mal zwei Scheinchen gegeben; aber man kann ihn beim Juwelier für anderthalb Rubel neu kaufen.“

      „Geben Sie mir auf die Uhr vier Rubel; ich löse sie wieder aus; es ist ein Erbstück von meinem Vater. Ich bekomme nächstens Geld.“

      „Anderthalb Rubel und die Zinsen vorweg, wenn es Ihnen so recht ist.“

      „Anderthalb Rubel!“ rief der junge Mann.

      „Ganz nach Ihrem Belieben!“

      Mit diesen Worten hielt ihm die Alte die Uhr wieder hin. Der junge Mann nahm sie und war so ergrimmt, daß er schon im Begriff stand wegzugehen; aber er besann sich noch schnell eines andern, da ihm einfiel, daß er sonst nirgendwohin gehen konnte und daß er auch noch zu einem andern Zweck gekommen war.

      „Nun, dann geben Sie her!“ sagte er grob.

      Die Alte griff in die Tasche nach den Schlüsseln und ging in das andre Zimmer hinter dem Vorhang. Der junge Mann, der allein mitten im Zimmer stehengeblieben war, horchte mit lebhaftem Interesse und kombinierte. Es war zu hören, wie sie die Kommode aufschloß. ,Wahrscheinlich die obere Schublade‘, mutmaßte er. ,Die Schlüssel trägt sie also in der rechten Tasche . . . alle als ein Bund, an einem eisernen Ringe . . . Und es ist ein Schlüssel dabei, der ist größer als alle andern, dreimal so groß, mit gezacktem Bart; natürlich nicht von der Kommode . . . Also ist da noch eine Truhe oder ein Kasten . . . Das ist interessant. Truhen haben immer derartige Schlüssel . . . Aber wie gemein ist das alles!‘

      Die Alte kam zurück.

      „Nun also, Väterchen: wenn wir zehn Kopeken vom Rubel monatlich rechnen, dann bekomme ich für anderthalb Rubel von Ihnen für einen Monat fünfzehn Kopeken im voraus. Und für die beiden früheren Rubel bekomme ich von Ihnen nach derselben Berechnung noch zwanzig Kopeken im voraus. Das macht zusammen fünfunddreißig Kopeken. Sie erhalten also jetzt für Ihre Uhr einen Rubel und fünfzehn Kopeken. Hier, bitte.“

      „Wie?

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