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TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller. Группа авторов
Читать онлайн.Название TEXT + KRITIK 155 - Herta Müller
Год выпуска 0
isbn 9783967074192
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия TEXT+KRITIK
Издательство Bookwire
Diesen Zeilen würden heutige Leser in einer demokratischen Gesellschaft auf Anhieb wohl zustimmen; tatsächlich beziehen sie sich aber auf eines der zentralen Organe der Kommunistischen Partei Rumäniens, auf eine der wichtigsten publizistischen Stützen der Diktatur Ceauşescus, eine Zeitung, die dem Geheimdienst nahestand und Propaganda in dessen Sinne verbreitete. Die Zeilen vermitteln einen Eindruck davon, was Herta Müller mit der ›hölzernen Sprache‹ der Diktatur und der Komplizenschaft aller Wörter meint, auf die kein Verlass mehr ist. Will man nicht mit diesem totalitären Zugriff auf die Welt identisch sein, muss man ironisch vorgehen, die Begriffe ihren Verwendungszusammenhängen entreißen, eher subjektiv-aisthetische als rationale Pfade einschlagen, um die Absurdität dieser doppelbödigen Ordnung aufzuzeigen. Etwas anderes bleibt den Figuren, die in dieser überwachten Welt leben, auch kaum übrig, unterliegen doch jeder Begriff und jede Interaktion der Definitionsmacht des Totalitarismus.
In der »Scînteia« wird außerdem der Journalismus im Dienst des ganzen Volkes, »ohne Unterschied der Nationalität« zur »Hebung des Lebens- und Zivilisationsstandards« und zur »vielseitigen Vervollkommnung der Organisation und Leitung der Gesellschaft« gelobt; abschließend verwirft das Editorial feindliche »Denkungsarten sowie fremde Anschauungen und Einflüsse (…), Tendenzen des Parasitentums, eines Lebens ohne Arbeit« und spricht sich für »Ethik und Rechtlichkeit« aus.23 Damit kristallisiert sich ein Feindbild heraus – jenes des Schmarotzers, der den Dienst an der vermeintlich intakten Solidargemeinschaft verweigert.
Just in diesem Heft der »Neuen Literatur« erscheint Herta Müllers Erzählung »Inge«, mit der Zueignung »Einem Inspektor gewidmet«. Die Hauptfigur Inge ist offenkundig arbeitslos, auf sie trifft also das im Editorial beschworene Stigma zu. Sieben weitere Erzählungen Müllers handeln von einer Figur dieses Namens, »In einem tiefen Sommer«, »Schulbankgesicht«, »Möbelstücke«, »Der Regen«, »An diesem Tag«, »Eine Arbeit« und »Es ist Sonntag«; Inge wohnt stets eine autofiktionale Funktion inne, wie Herta Müller selbst erklärte.24
Mit dieser hilflosen, ihren eigenen Wahrnehmungen ausgelieferten Figur entwickelt Müller schon früh ein wichtiges Merkmal ihres Stils. Drastisch schildert ihre Sprache Verletzungen, die Inge erlebt, indem sie keiner Ideologie einen Sinn abgewinnen kann, obwohl sie über keinen eigenen belastbaren Selbst- und Weltentwurf verfügt. Gewalterfahrungen und bedrückende Leere bestimmen demzufolge Inges Erleben. Weil sie die Staatsideologie nicht teilt, wirkt diese nicht sinnstiftend; ihre Sozialisation im System hat zur Folge, dass ihr sowohl öffentlicher Widerstand als auch eigenständige gesellschaftliche Gegenentwürfe sinnlos scheinen. Auch kommen die Machthaber als moralisch und intellektuell beschränkte Wesen daher – sie erinnern an Hannah Arendts »Banalität des Bösen« und vermitteln den Eindruck, eine gegen sie initiierte Revolte gar nicht begreifen zu können. Daher verlagert sich Inges Widerstand nach innen, in eine subjektive, individuelle Sprach- und Bildwelt. Diese Disposition wird nicht als individuelle Schwäche dargestellt, sondern als Effekt eines gesellschaftlichen Systems, das selbst keine Spielräume für offenen Widerstand zulässt. Im Leiden Inges an den Menschen, denen sie begegnet, äußert sich Kritik an der generalisierten Angst, an der Internalisierung der Regeln der Diktatur und an Automatismen, die an die Stelle zwischenmenschlicher Interaktionen getreten sind. Inge weigert sich, auf vorgefertigte Versatzstücke, auf Skripte zurückzugreifen, die in der sozialistischen Diktatur sicherstellen, dass die Einzelnen aus Sicht des Geheimdienstes Securitate keine Fehler begehen. Damit verschmäht sie das Sinnstiftungsangebot der totalitären Gesellschaft. So leistet sie eine Form passiven Widerstands, der mit eigener Beschädigung einhergeht – denn Inge ist den Gewaltmustern ausgesetzt, ohne die Partizipationsangebote der sozialistischen Gesellschaft wahrzunehmen und ohne ihr Widerständig-Sein mit anderen zu teilen.
Durchgehend findet sich im Innenleben Inges das Motiv der systematischen Umkehrung der in ihrer Gesellschaft bekannten Markierungen als Befreiungsakt – sei es, dass sie auf Landschaften, auf den menschlichen Körper oder auf einzelne Sinneswahrnehmungen bezogen sind. In einem Bewusstseinsstrom voller Montagen, die die allgemeine Proliferation der Täterschaft spiegeln, wird selbst die Vegetation übergriffig. Nicht nur die Natur, auch das eigene Empfinden und die Sprache, die der Verstand vergebens einsetzt, um sich zu orientieren, sind korrumpiert von allgegenwärtiger struktureller Gewalt. Gleichzeitig ringt Inge mit sich selbst, um sich davon zu lösen: »Der Himmel war dieselbe Betonplatte wie das Pflaster, auf dem Inge mit den Füßen stand. Inge musste auf dem Kopf gehen, weil der Himmel auch ein Gehsteig war.«25 Im Fortlauf dieser surreal anmutenden Szene, die an den Anfang von Georg Büchners »Lenz« erinnert, spießt ein Baum Inge auf, sie bearbeitet darauf hin alle Blätter mit den Zähnen, »bis alle Blätter gezackt waren und einen anderen Baum bildeten. Inges Kopf drehte sich und stellte sich quer. Er stand mit dem Hals nach oben.«26 In diesen Hals legt eine fremde Frau, eine Botin des Geheimdienstes, einen Strauß samtschwarzer Rosen – Kondolenzblumen – und beteuert, sie passten gut zu Inge, der Hals müsse bloß etwas tiefer werden.
Unübersehbar setzt sich die Erzählung mit Morddrohungen auseinander, die von Fremden wie der Frau mit den samtschwarzen Rosen auf offener Straße ausgesprochen werden, und mit der übermächtig werdenden Angst vor den Vollstreckern des sozialistischen Überwachungsstaates. Infolge der Verinnerlichung sozialistischer Normierung und ihrer Externalisierung sind diese überall anwesend – auch in der eben nur scheinbar davon unbelasteten Vegetation: »und ein Baum (…) stemmte sich durch Inge hindurch und spießte sie auf«.27
Die Erzählung offenbart, dass die Hauptgestalt unterschiedlichen Gewaltstrukturen ausgesetzt ist – marschierenden Soldaten, Milizmännern, einem Beamtenapparat, dessen Allmacht willkürlich ausagiert wird, entsolidarisierten Mitmenschen und einer Amtssprache, die die Welt in diesem Geist kartiert. Der Text verhält sich zugleich aber auch widerständig gegen diese Gewalt, zum einen, indem er deren brutale Absurdität entlarvt, zum anderen, indem eine eigenlogische Wahrnehmung willkürliche Schnitte durch Bilder und Wörter vollzieht und Inges individuelle, nicht mehr im Dienst des Totalitarismus stehende Selbst- und Weltsicht zum Vorschein bringt.28
Inge tritt vor einen Inspektor, dessen wirrer – und deshalb keinen Widerspruch duldender – Monolog darauf hinausläuft, dass sie entlassen wird, weil sie als studierte Lehrerin nicht als Übersetzerin in einem Maschinenbauunternehmen eingesetzt werden kann. Die Begründung ist fadenscheinig, weil das Lehramtsstudium in Rumänien nicht unüblich als Qualifikation für die Übersetzerlaufbahn war.
Herta Müller hatte selbst eine solche Arbeitsstelle infolge ihrer Weigerung, mit dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten, verloren, und dadurch traf das Stigma der ›Asozialität‹ und des ›Parasitentums‹, das im Editorial der Zeitschrift, in der ihre Erzählung erschien, beschworen wurde, aus Sicht von Partei und Geheimdienst auf die Autorin zu. »Inge« steht in einem geradezu grotesken Verhältnis zum Editorial, denn dieses Stigma wird als Folge der Machtausübung von Partei und Geheimdienst mit ihrem Verwaltungs- und Vollstreckungsapparat entlarvt. Als missliebig empfundene Person konnte sie entlassen – da der Staat der einzige Arbeitgeber war – und sozial vernichtet werden, indem sie als unsolidarische ›Asoziale‹ gebrandmarkt wurde.
Logik hat der Ministerialvertreter gar nicht nötig: »Also, wie gesagt: da demnach dennoch das Maschinenbauministerium weil Sie, nachdem, seit der Betrieb, während dieser Zeit eine Stelle, sondern, oder Ihnen angehört, und das Maschinenbauministerium leider währenddessen, also das Unterrichtsministerium deshalb durch den Betrieb (…) seither, demnach auf keinen Fall zuständig ist.«29