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MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken. Robert Mccammon
Читать онлайн.Название MATTHEW CORBETT in den Fängen des Kraken
Год выпуска 0
isbn 9783958355026
Автор произведения Robert Mccammon
Жанр Языкознание
Серия Matthew Corbett
Издательство Bookwire
»Sicherlich lange genug, um einem im Sterben liegenden Mann die letzte Ehre zu erweisen?«, bemerkte Matthew.
»Ehre.« Sie verlieh dem Wort einen hässlichen Klang. »Ihr wisst offenbar nicht, was das Wort bedeutet, Sir. Bringt mich zu ihm«, sagte sie zum Diener.
Sie gingen auf die Treppe zu. »Euer Pferd hat es die Steigung hoch geschafft?«, fragte Oberley.
»Mein Pferd?« Im Kerzenlicht zog Christina die Augenbrauen zusammen. »Mein Pferd ist … davongelaufen, glaube ich.« Ihre Augen waren frostig geworden wie Eis auf Glas. »Ich habe versucht … nach den Zügeln zu greifen, aber … ich glaube, es ist weggelaufen.«
Oberley und Matthew tauschten einen kurzen Blick miteinander aus. »Geht es Euch nicht gut, Miss?«, fragte Oberley.
»Ich … weiß nicht, wie ich mich fühle. Ich glaube … ich sollte nicht hier sein. Ich glaube, es ist falsch.« Sie blieb am Fuße der Treppe stehen und spähte nach oben. Matthew sah, dass sie zitterte.
»Es wird gutgehen«, sagte Matthew.
»Es ist falsch«, wiederholte sie mit Nachdruck. »Falsch. Alles ist …« Sie fasste sich an die Stirn und schwankte. Als die beiden versuchten, sie zu stützen, wich sie vor ihnen zurück. »Fasst mich nicht an! Ich will nicht angefasst werden!«, sagte sie so vehement, dass sowohl Matthew als auch Oberley sofort die Hände sinken ließen.
Matthew meinte, dass diese Frau entweder kurz davor stand, verrückt zu werden, oder etwas wesentlich Stärkeres als den süßen Tee brauchte, um ihre Nerven zu beruhigen. Er selbst begann sich inzwischen nach flüssigem Mut in Form eines Grogs zu sehnen. Mit viel Rum.
»Ich kann weitergehen«, sagte Christina leise, aber doch mit Tapferkeit in der Stimme. »Ich kann weitergehen.« Und damit begann sie, die Treppe hochzusteigen.
Als sie fast oben angekommen war, schwankte sie wieder und sah mit wilden Blicken um sich. Matthew und Oberley blieben ein paar Stufen unter ihr.
»Miss Christina?«, fragte Oberley.
»Habt Ihr das gehört?«, erwiderte die Frau. »Das Geräusch.«
»Das Geräusch, Miss?«
»Ja!« Mit bleichem Gesicht und angsterfüllten Augen schien sie sich suchend umzuschauen. »Ich habe gehört … wie etwas zerbrochen ist. Wie … ich weiß nicht.« Sie fing Matthews Blick auf. »Habt Ihr es nicht gehört?«
»Ich befürchte nicht«, gab Matthew zurück und dachte sich, dass die Tochter des reichen Mannes nicht ganz bei Trost war.
Sie nickte und schien sich wieder zu fangen. Dann setzte sie sich erneut in Bewegung, und die beiden Männer kamen ihr nach.
Oberley öffnete ihr die Tür. Sie schlüpfte ins Zimmer. Die Gestalt im Bett saß bereits hoffnungsvoll an die durchweichten Kissen gelehnt – ein unglaublicher Sieg eines zerfallenden Verstandes über zerfallendes Fleisch, dachte Matthew. Er trank seinen Tee aus, fühlte sich etwas gestärkt und stellte die Tasse auf einen Tisch. Er beobachtete, wie Christina leise über den Teppich schritt. Der Arzt ging beiseite, um ihr Platz zu machen und seinen Stuhl anzubieten, sollte sie ihn brauchen. Am Bett blieb sie stehen und sah auf das, was dort lag, während Matthew und Oberley zu ihr traten.
Außer dem keuchenden Atem des reichen Mannes war alles still. Es war ein Moment, der sich eisig und heimtückisch wie die Welt hinter den Fensterscheiben erstreckte. Alles hing im Ungewissen.
»Tochter«, krächzte Lord Mortimer.
Sie gab keine Antwort. Wieder fasste sie sich mit ihrer behandschuhten Hand an die Stirn und schwankte. Sie sah sich auf eine Art im Zimmer um, die Wände und die Decke hoch, dass Matthew sich an ein gefangenes Tier erinnert fühlte, das sich nirgendwo mehr verstecken kann.
»Rede mit mir.« Die Stimme flehte fast. »Bitte.«
Sie sagte nichts.
»Christina«, sagte Lord Mortimer, als kniete er vor dem Altar.
Matthew sah, wie ihr Blick auf ihren Vater fiel. Er sah sie zurückzucken. Er sah, wie ihre Handschuhe sich zu Fäusten ballten. Aber sie war sein Fleisch und Blut und vielleicht gleicher Natur. Sie blieb gefasst.
»Wovon soll ich denn reden?«, fragte sie leise mit schauderhaft beherrschter Stimme. »Soll ich über meine Mutter sprechen … deine Frau … und wie du sie in den Selbstmord getrieben hast? Soll ich davon reden, wie Morgan an deiner Unzufriedenheit zerbrochen ist? Soll ich von all den Malen sprechen, die Morgan und ich liebevoll auf dich zugegangen sind und du uns den Rücken zugedreht hast? Weil du … immer so viel zu tun hattest, Poppa?« Sie wartete nicht auf eine Antwort, sondern machte auf diese halsstarrige, vernichtende Weise weiter. »Soll ich von den Hunderten von Menschen reden – oder Tausenden vielleicht –, die in deinen Minenschächten und Arbeitshäusern, auf deinen Feldern und in deinen Lagerhallen gelitten haben?
Soll ich von der Scham sprechen, die wir gefühlt haben, als wir entdeckten, wie du die Menschen ausnutzt – und wie du Freude daran hast? Soll ich von den Nances, den Copelands und den Engelburghs reden? Die Freunde unserer Familie waren … bis du in deiner Gier die Unternehmen ihrer Väter und alle Träume, die die Kinder vielleicht gehegt hatten, zerstört hast? Soll ich von der Wittersen-Halle sprechen und den Arbeitern, die darin umgekommen sind? Und von den Rechtsanwälten, die du Jahr um Jahr eingestellt hast, um nicht das Schadensgeld zahlen zu müssen, das gerecht gewesen wäre, wie du wissen musstest? Wovon soll ich also reden? Davon oder von anderen Sünden und Gräueln? Von anderen Schand- und Missetaten? Sag es mir.«
Der sterbende Mann erschauderte. Matthew fragte sich, ob er über die Tatsache nachdachte, dass zwar der Tod noch nicht gekommen war, die Wahrheit ihn aber eingeholt hatte.
Christina Mortimer bohrte noch tiefer in der Wunde. »Und du wagst es, mich herzubestellen? Deinen Diener loszuschicken, mich zu überreden? Damit ich vergessen soll, wie schrecklich es ist, deine Tochter zu sein? Zu vergessen, wie du meine Mutter, meinen Bruder und fast alles zerstört hast, das mir wichtig war?« Sie blinzelte. Wilde Angst sprang in ihre Augen. Sie sah sich um und schrie fast: »Warum bin ich hier? Was mache ich hier? Ich weiß nicht … ich weiß nicht!«
»Miss Christina«, sagte Oberley und streckte die Hand aus, um ihre Schulter zu berühren, aber sie zuckte vor ihm zurück. »Bitte. Lasst doch ein bisschen Gnade gegen ihn walten.«
»Nein«, sagte Lord Mortimer klar und deutlich. »Nein«, wiederholte er mit einem schiefen Lächeln auf seinen grimmigen Lippen. »Keine Gnade. Deswegen … deswegen habe ich dich nicht hergebeten, Tochter. Ich habe in meinem Leben niemandem Gnade geschenkt … und ich bitte um keine für mich selbst.« Sein gutes Auge glänzte feucht. »Niemand hat mir je welche geschenkt. Ich wüsste auch nicht, warum. Ich kann damit nichts anfangen. Es ist nichts als Schwäche. Eine Krücke. Fressen oder gefressen werden … so kenne ich es und nicht anders, mein ganzes Leben lang. Selbst mein Vater … es war ein Kampf um Leben und Tod mit ihm … denn er hat versucht, mich zu zerstören … um herauszufinden, was in mir steckte. Hat mich in einem Schrank eingeschlossen. Du redest von armen Arbeitern, Tochter? In einen Schrank hat er mich gesperrt … weil ich irgendwelche seiner Regeln nicht genau befolgt hatte. Und ich konnte nicht mehr heraus … konnte kein Essen oder Trinken bekommen … bis ich ihn um Vergebung angefleht habe. Weißt du, wie lange ich in dem Schrank blieb … im Dunkeln? In meiner Pisse und Scheiße? Weißt du … wie lange?« Er nickte, als wäre er immer noch stolz auf diesen Triumph aus seiner Kindheit. »Der Butler hat mir gesagt … dass es fünf Tage und vierzehn Stunden waren. Gegen den Willen meines Vaters haben sie mich rausgeholt. Und als es mir wieder gut genug ging … hat er mich gleich wieder drin eingesperrt. Da habe ich … fast eine ganze Woche lang ausgehalten. Aber ich habe dabei gelernt, Tochter. Ich habe gelernt, dass ein Mann – oder ein Junge – allein mit einem guten Herzen nicht überleben kann. Er überlebt nur durch seine Willenskraft. Ja. Darum lebe ich heute noch. In diesem Moment. Denn ich wollte dich sehen … um mit dir zu reden und dich reden zu hören … und ich werde nicht sterben, bevor ich damit zufrieden bin.«
»Fressen