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der seinen eigenen Namen nicht mehr wusste. Längst war Max von Joints und Wodka zu ganz anderen Substanzen übergegangen, die ihm seine sogenannten neuen Freunde von der Schauspielschule besorgten.

      Langsam verstand ich, was genau Max damals auf dieser vermaledeiten Abifeier an mir entdeckt hatte. Was das Geheimnis war, das ich besaß und nach dem er verzweifelt suchte. Was ihm fehlte. Die Zauberformel, die die unscheinbare Icki so attraktiv für ihn machte, hieß innere Ruhe. Meine stabile Grundstimmung war es gewesen, die ihn angezogen hatte wie einen Vampir. Ihn, den flatterhaften Gesellen, der sich immer wieder aufs Neue die Bestätigung von Fremden holen musste, weil er trotz seines blendenden Äußeren nicht an sich selbst glauben konnte. Weil er gar nicht wusste, wie er den Hohlraum hinter der hübschen Fassade auffüllen sollte.

      Ich dagegen hatte mit meinem Inneren nie große Probleme gehabt. Vielleicht nur deshalb, weil mein Äußeres nicht von klein auf Begeisterungsstürme provoziert hatte. Meine innere Ruhe war für mich selbstverständlich (jedenfalls, solange ich in regelmäßigen Abständen auf die Unterstützung von Wolfgang zurückgreifen konnte). Selbst jetzt war sie noch in Resten vorhanden, meine stabile Grundstimmung.

      Am Montagmorgen erwachte ich auf dem hässlichen Sofa in einem Zustand, der jeder Beschreibung spottete. Seit Freitag früh drei Uhr hatte ich weder geduscht noch meine Zähne geputzt oder etwas gegessen. Meine individuelle Art von Liebeskummer-Bewältigungsstrategie hatte sich herauskristallisiert: Heulend alte Max-Fotos angucken und den Geburtstagsprosecco vernichten, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von zwei Flaschen in vierundzwanzig Stunden. Trotzdem herrschte in mir keine ernsthafte Verzweiflung, sondern nur eine enttäuschte Traurigkeit. Ich war in ein Loch gefallen, jawohl, aber es erschien mir nicht so, als ob ich überhaupt nicht mehr herauskommen könnte. Es war eben ein Loch, tief und schwarz, aber es besaß einen Boden und eine kleine Ahnung von Lichtschein über mir. Ich wusste immer noch, wo oben und unten war in meinem Leben.

      Draußen regnete es. Der Himmel konnte sich nicht entscheiden, ob er hellgrau oder dunkelgrau sein wollte. Genauso wie ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich noch ziellos angetrunken oder doch schon wieder einfach traurig sein sollte. Wenn ich mein Handy nicht so nahe neben meinem Ohr liegen gehabt hätte, würde ich vermutlich heute noch schlafen und dabei laut schnarchend Proseccosabber auf dem Sofa verteilen. Des is leider so mit dem Alkohol, erinnerte ich mich im Halbschlaf an den Sinnspruch des Paketboten. Doch die SMS, die praktisch direkt in meinem Trommelfell einging, weckte mich problemlos. Alarmiert setzte ich mich auf. Wollte sich Max etwa bei mir entschuldigen? Oder noch einmal mit einer netten kleinen Beleidigung so richtig nachtreten? Zweiteres entsprach eher seiner Art. Doch das Display gab Entwarnung. Die SMS war nicht von Max, sondern von Freddy.

       Hab so das Gefühl, du brauchst an diesem freudlosen Vormittag etwas Zuspruch. Hab ich Recht?

      So schnell es mein uraltes Tastenhandy erlaubte, tippte ich zurück:

       Ja bitte. Max weg, Kater da.

      Freddy ist meine beste Freundin. Seit etwas mehr als zwanzig Jahren. Ursprünglich lag das nur daran, dass wir beide so sperrige Vornamen haben. Ihre Eltern hatten sie Friederike getauft, was man trotz der stattlichen vier Silben nur ganz doof abkürzen kann. „Ricky“ kam glücklicherweise nicht in Frage – so hieß eines dieser rappenden Mädchen von Tic Tac Toe, die in unserer Grundschulzeit ganz groß waren. „Freddy“ schien die einzige andere Alternative. Hätten wir mit sechs Jahren schon von der Horrorfilmreihe Freddy Krueger gehört, wäre vielleicht alles ganz anders ausgegangen.

      So aber war die Erleichterung, sich am ersten Schultag neben jemanden setzen zu können, der nicht Stefanie oder Michael hieß, für uns beide groß genug, um uns innerhalb von Sekunden anzufreunden. Noch vor Weihnachten der ersten Klasse hatten wir herausgefunden, was uns sonst noch alles so verband. Es war und ist eine Menge. Von den kastanienbraunen Haaren und unseren beinahe identisch großen My little Pony-Sammlungen abgesehen, mochten wir beide am liebsten Pfirsich-Eistee und das Fach Deutsch. Wir hatten schon damals eine ganz besondere Art, unsere Umwelt wahrzunehmen, wenn wir zusammen waren. Wir versetzten uns in beliebige Rollen hinein und unternahmen stundenlange Reisen durch unsere verschrobenen Fantasiewelten.

      Obwohl wir uns in der Pubertät körperlich gesehen denkbar weit auseinander entwickelten (ich ging eher unten in die Breite, Freddy ausschließlich oben) machen wir immer noch gerne spannende Reisen zusammen. Mittlerweile auch durchaus zu realen Zielen wie den Kanarischen Inseln oder der nächsten Konzerthalle. Und wir haben ein Standardgetränk, wenn wir uns treffen: Pfirsich-Eistee. On the Rocks. Mit Wodka.

      An diesem Tag hatte Freddy jedoch keine Lust auf Eistee on the Rocks, vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Stattdessen sah sie sich in meinem Wohnzimmer um, betrachtete den eingetrockneten Proseccosabber auf dem Sofa, rümpfte missbilligend die Nase und stakste wie ein Storch über die vollgeheulten Taschentücher und leeren Proseccoflaschen zum Balkon. Sie öffnete die Vorhänge und riss die Balkontür weit auf, um die frische Mailuft herein zu lassen. Dann guckte sie auf die Uhr.

      „Icki, ist dir die Rebound-Phase ein Begriff?“

      „Nein! Und was auch immer das ist, es ist mir auch egal! Scheißegal sogar!“, schluchzte ich.

      „Ganz typisch, ganz, ganz typisch“, murmelte Freddy, setzte sich neben mich und streichelte mit etwas spitzen Fingern meinen Rücken. Ich verstand das mit den spitzen Fingern, weil ich immer noch dasselbe Schlaf-T-Shirt mit den Streublümchen trug, in das ich nach Schichtende am vergangenen Freitagnachmittag geschlüpft war. Vor vier Tagen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, in meinen Ärmel zu rotzen, unterließ es aber im letzten Moment, weil meine beste Freundin mich sowieso schon zu müffelig fand. War ich ja auch. Müffelig und betrunken.

      „Typisch Icki, oder?“, murmelte ich. „Die blöde Nuss lässt sich verlassen, und dann sitzt sie rum und besäuft sich. Tut mir leid, aber mir ist nichts Besseres eingefallen. Ist mein erster Liebeskummer.“

      „Nein, nicht typisch Icki. Die Icki, die ich kenne und schätze, hat immer gute Laune und einen schnoddrigen Spruch auf Lager. Oder eine abgefahrene Idee. Das, was ich hier vor mir sehe, ist ganz typisch Rebound-Phase.“

      „Na gut, du hast gewonnen. Was ist denn diese Phase? Und woher weißt du so was?“

      Freddy lächelte und reichte mir einen Superduper-Kaugummi, der so aussah, als wäre er in seiner Wirkung durchaus mit Rohrreiniger vergleichbar. Unter seiner steinharten, blassblauen Kruste mit den zahnreinigenden kleinen Kügelchen schmeckte er auch so. Ich kaute ein paar Mal darauf herum und fühlte mich gleich um ein Promill weniger betrunken.

      „Ich hab das letzte Woche im Kurs gelernt.“ Seit einiger Zeit belegte Freddy eine Art Abendschule für Psychologie und Pädagogik, um besseren Zugang zu schwierigen Patienten zu finden. „Es gibt verschiedene Phasen oder Strategien, um mit Einschnitten in seiner Biografie umzugehen. Und die Rebound-Phase ist das, was mit Leuten passiert, die zu lange mit dem falschen Typen rumgedödelt haben. So wie du.“

      „Na vielen Dank, du Arschgeige.“

      „Gerne. Na komm, du weißt, dass Max und ich nie besonders viel voneinander gehalten haben. Also, kurz zusammengefasst: Wenn der Partner weg ist, müsste man sein Leben eigentlich an die geänderten Umstände anpassen. Man müsste sich fragen, was man eigentlich will, und man müsste eigentlich auch überlegen, was man selbst falsch gemacht haben könnte, um es beim nächsten Mal besser zu machen. Tun aber die wenigsten. Stattdessen verfallen viele erst mal in so ein wildes Rumgebumse nach dem Motto: Jeder Dödel ist besser als gar kein Dödel, und viele Dödel sind noch besser, damit ich mich meinen eigenen Problemen nicht stellen muss. Man will möglichst viel Erfahrung sammeln. Hörner abstoßen. Bei dir längst überfällig, wenn du mich fragst.“

      „Ich hab’ aber nichts falsch gemacht!“, brummelte ich beleidigt.

      „Ganz typische Reaktion!“, lachte Freddy. „Aber ich geb’ dir Recht. In deinem Fall ist natürlich wirklich nur Max der Arsch. Wobei du dich mit ein paar Jahren Abstand vielleicht mal fragen solltest, wieso du es denn so lange mit dem Depp ausgehalten

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