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März 1924 vereidigt und trat am 1. April meinen Dienst an. Damit war ich der Nachfolger meines Onkels geworden, der jetzt zufrieden war, daß dieser Beruf in den Händen seiner Familie blieb.

      Ich hätte das niemals tun sollen.

      Es waren oft keine Menschen mehr, die ich zu dem schwarzen Vorhang führte. Aber viele starben ruhig und reuig. Einige stemmten sich in wilder, blinder Lebensgier gegen meine Gehilfen, bei denen jeder Handgriff saß. Ich mußte einmal an einem Tag Vater und Sohn und an einem anderen Bruder und Schwester enthaupten.

      Unter meiner Hand endete das Leben von Söhnen, die ihre Väter ermordet hatten. Unter meinem Fallbeil starben Eltern, die ihre Kinder beseitigt hatten.

      Ich hörte die schrillen Schreie der Frau, die zusammen mit ihrem Liebhaber den eigenen Mann im Backofen verbrannt hatte.

      Ich steckte einem jugendlichen Raubmörder, als er schon auf dem Brett angeschnallt war, auf seinen Wunsch in die linke Hand das Sterbekreuz und in die rechte das Bild seiner Mutter.

      Ich vollstreckte das Urteil an einem Mann, der … schon einmal gestorben und beerdigt worden war.

      Ich sorgte dafür, daß die letzten Wünsche der Delinquenten erfüllt wurden, soweit es ging. Ein Bauernsohn, der die Magd ermordet hatte, durfte in seinem Hochzeitsanzug sterben; ein gelähmter Totschläger, dem das Anziehen Schmerzen machte, im Hemd.

      Ich enthauptete einen siebenfachen Frauenmörder und einen Mann, der seine eigenen sechs Kinder erstickt hatte.

      Die Sühne schickte mich kreuz und quer durch Deutschland. Niemand wußte, daß auf meinem Opel Blitz hinten zerlegt die Todesmaschine lag. Meine beiden Gehilfen reisten mit dem Zug, um kein Aufsehen zu erregen. Wir durften uns nicht in der Stadt der Exekution zeigen, keine Gastwirtschaft betreten, keinen Alkohol zu uns nehmen. Wir wurden wie Häftlinge in eine Zelle gesteckt.

      Wenn wir kamen, wußte der Delinquent, daß er im Morgengrauen sterben würde.

      Mein Dienstanzug waren Gehrock und Zylinder. Paragraph 15 der Hinrichtungsordnung lautet: »Der die Vollstreckung leitende Beamte hat darauf bedacht zu sein, daß die Hinrichtung in ernster und würdiger Form vor sich geht. Er selbst hat in Amtstracht, die übrigen Anwesenden haben im dunklen Anzug oder in Dienstkleidung zu erscheinen.«

      Meine Befehle erhielt ich vom Staatsanwalt. Ich erlebte mitunter, wie der Vertreter der Anklage sich abwenden mußte, wenn ich das von ihm erwirkte Urteil vollstreckte. Manchmal beobachtete ich auf seinem Gesicht Grauen und Zweifel. Einmal hob einer die Hand, als ob er das Urteil rückgängig machen wollte. Andere drohten zusammenzubrechen. Aber sie mußten durchhalten, bis es vollzogen war.

      Ich erlebte Staatsanwälte, die vor der Exekution Witze rissen oder danach mit Appetit belegte Brötchen aßen. Ich kannte andere, die vorher gequält zu mir sagten: »Nicht, Reichhart, Sie machen es doch so schnell, wie es geht?«

      Ich kenne Staatsanwälte, die nicht nahe genug an das Fallbeil herangehen konnten, und solche, die während des Vollzugs die Augen schlossen und sich die Hände an die Ohren preßten.

      Ich kann bezeugen, wie immer wieder bei politischen Urteilen die Opfer fast leicht und lächelnd starben, während der Vertreter der Anklage aussah, als ob er unter das Fallbeil müßte.

      Und dann kamen die Sondergerichte. Der Volksgerichtshof. Die Urteile überschlugen sich. Die Guillotine kam nicht mehr nach. Und ich stand und stand und zog den Hebel. Zweiunddreißig Exekutionen einmal an einem Tag. Die Gesichter der Delinquenten hatten sich gewandelt. Die Mörder waren nur noch selten.

      Keine Zeit zum Nachdenken. Drei Minuten Abstand zwischen den Hinrichtungen. Keine Kerzen mehr. Kruzifixe waren aus dem Todesschuppen entfernt worden.

      »Schnell, schnell!« drängte ein Staatsanwalt.

      Ich sah auf, ich konnte nicht mehr. Ich wollte zurücktreten. Ich habe es zweimal versucht, dreimal. Es wurde abgelehnt. Man hat mir gedroht. Man behauptete, daß meine Arbeit kriegswichtig sei.

      Und ich tötete und tötete. Zweimal in der Woche, dreimal. Zehnmal am Tag, zwanzigmal. Ich ging den Menschen aus dem Weg. Wenn ich an einer Kirche vorbeikam, aus der ein Gebet wehte, wenn ich die Worte hörte: »Vater unser …«, dann blieb ich plötzlich stehen. Automatisch. Dann wartete ich noch drei, vier Sekunden. Jetzt mußte das Fallbeil sausen.

      So war es doch immer. Nach dem »Amen« nickte der Staatsanwalt und sagte: »Walten Sie Ihres Amtes.«

      Ein Griff. Das Brett dreht sich im Neunzig-Grad-Winkel. Ein schwarzer Vorhang. Ein Wachstuchkorb. Ein Schlag.

      Aus.

      So schnell ist der Tod.

      Mich ließ er nicht mehr los. Ich glaube, in diesen Tagen, Wochen und Monaten der Haft erfaßte ich zum ersten Mal die Problematik meines Berufs. Der Staat, der mich überbeschäftigt hatte, ließ mich allein – oder besser gesagt, die Funktionäre des Staats, die jetzt, sich aus ihren eigenen Gesetzen und Anordnungen hinauswindend, ihre Verteidigung vor der Spruchkammer vorbereiteten.

      Auch mir war mitgeteilt worden, daß ich mich zu verantworten hätte, und zwar gleich in der Gruppe der Hauptschuldigen.

      Aber bevor ich Näheres erfuhr, trat eine Wendung ein: Plötzlich stand ein amerikanischer Captain vor mir, fragte nach meinem Namen, lächelte mir aufmunternd zu, bot mir eine Zigarette an. Als ich im Jeep nach Landsberg fuhr, wußte ich noch nicht, um was es ging. Im Gefängnishof begriff ich es schnell. Ich mußte auf Befehl der Dritten Armee zwei neue Galgen bauen und Mastersergeant Woods, den späteren Scharfrichter in Nürnberg, unterrichten. Ich holte die Stricke vom Zollamt ab, die später Woods geschmacklos zentimeterweise als Souvenirs verkaufte.

      Mein Schicksal ließ mich nicht los. Auch in Landsberg standen Galgen.

      Die Guillotine war bei Nacht und Nebel in die Donau versenkt worden. Aber an den Henker erinnerte man sich. Es schien, als ob von der Justiz des Dritten Reiches nur ich übriggeblieben sei, der ich Urteile vollstreckte, die ich nicht zu verantworten brauche. Staatsanwälte und Richter, denen ich beinahe tagtäglich in diesen schaurigen Morgenstunden im Todesraum der Strafanstalt begegnet war, haben längst ihre Stellungen wieder erhalten.

      Ich sollte mich für sie verantworten.

      Ich stand vor der Spruchkammer. Ich sagte: »Ich werde nie mehr einen Menschen hinrichten – mögen die Richter künftig ihre Todesurteile selbst vollstrecken!«

      Neben mir saß Hans, der mir von meinen vier Kindern am nächsten stand. Er wollte helfen und konnte es nicht.

      Er verzweifelte über mich.

      Er verzweifelte für mich und ging freiwillig in den Tod.

      Sie holten mich öfter, und wieder war der Tod in meinem Gefolge. Auf Befehl. Wie früher. Nur trugen diesmal meine Auftraggeber Uniformen statt Roben. Und die Männer, die ich hängte, waren in meinem Tagebuch keine Namen, die mir nichts sagten. Ihre Untaten hatten selbst in den dünnen Nachkriegszeitungen reichlich Platz eingenommen.

      In der Nacht vor der Hinrichtung wurden sie in einen Keller gebracht. Eine Häftlingskapelle veranstaltete für sie ein Wunschkonzert, während die Frauen, die am nächsten Morgen Witwen sein würden, mit verstörten Gesichtern im »Hotel Goggl« herumsaßen.

      Es gab wieder eine Henkersmahlzeit; jeder Verurteilte durfte rauchen, soviel er wollte, nur Alkohol blieb den Rotjacken versagt.

      Dann wurden sie aufgerufen und gingen zum Galgen, von Priestern begleitet. Und ich waltete meines Amtes, wie immer so schnell, zielstrebig und schmerzfrei wie möglich. In die Augen brauchte ich dabei keinem zu sehen, denn es wurde ihnen eine schwarze Kapuze über das Gesicht gezogen, bevor ich den Mechanismus der Falltüre auslöste.

      Zwischen den Hinrichtungen lebte ich jetzt in einer vorläufigen, brutalen Freiheit. Manchmal wurde ich nach Landsberg gerufen und dann wieder nach Hause geschickt; dann jeweils hatten die deutschen Anwälte der Rotjacken einen Hinrichtungsstop erwirkt. Meistens war es kein fragwürdiger Zeitgewinn, denn immer mehr Insassen von Landsberg wurden begnadigt, so daß ich am Ende nur noch sieben Delinquenten hinrichten mußte,

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