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Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco
Читать онлайн.Название Das Erbe der Vogelmenschen
Год выпуска 0
isbn 9783958903173
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Sie föhnte ihr Haar, zog Jeans und ein frisches T-Shirt an. In der Wohnung war alles still. Jan – ihr Vater – nahm an einem Seminar in Genf teil, aber auf dem Tisch im Wohnzimmer standen in einer Vase drei Osterglocken. Daneben lag ein Bildband über die Pyramiden von Gizeh, eine wertvolle bibliophile Ausgabe, herausgegeben von der Deutschen Orient-Gesellschaft. »Alles Gute« hatte ihr Vater dazu auf eine Karte gekritzelt. Leo verbiss sich ein Lächeln. Typisch Vater, kurz und bündig. Natürlich hatte er es wieder eilig gehabt. Sie wohnten in Clarens, einem Städtchen in der Nähe des mondänen Montreux, am Genfer See, und auf der Autobahn herrschte konstantes Chaos.
Leo lief schnell zur Bäckerei auf der anderen Straßenseite, holte sich zwei frische Croissants. Sie ließ sich Kaffee einlaufen und frühstückte, den Bildband vor sich auf dem Tisch, sorgfältig bestrebt, keine Flecken zu machen. Als sie fertig war, schüttelte sie die Krümel aus den Seiten, ging in ihr Zimmer und setzte sich vor den Computer.
Schon den ganzen Morgen dachte sie daran, dass sie nach dem Essen nach Lausanne fahren wollte. »Komm um vier«, hatte ihre Großmutter Katja gesagt. »Aber nicht früher. Du weißt, dass ich mich nach dem Essen eine Weile hinlege. Danach trinken wir in Ruhe eine heiße Schokolade.«
Großmutters Schokolade war cremig, mit Ingwer und Rosenknospen gewürzt. Katja goss sie aus einer silbernen Kanne in entzückend bemalte Sammeltassen. Dazu gehörte ein großer Klacks Schlagsahne. Die Schokolade gab es keineswegs alle Tage, sondern nur zu besonderen Anlässen. Leo freute sich, obwohl Großmutter diesmal eine ungewöhnliche Bemerkung hinzugefügt hatte.
»Schokolade beruhigt die Nerven. Nimm dich zusammen. Ich will keine Hysterie in meinem Wohnzimmer.«
Hysterie? Leo konnte sich nicht erinnern, jemals hysterisch gewesen zu sein. Auch nicht als pubertierende Halbwüchsige. Sie war fast immer nüchtern, vernünftig und freundlich. Jetzt fühlte sie eine Art von vager Beklemmung in sich.
Was Leo bei der Stange hielt, war die Hoffnung, dass sie heute ein paar Dinge mehr erfahren würde. Eine Hoffnung, die viel tiefer reichte, als sie annahm. Heute also – an ihrem 20. Geburtstag. Heute könnte es sein, dachte Leo voller Ungeduld. Sie verstand allerdings nicht, warum Großmutter sie plötzlich wie ein rohes Ei behandelte. Wie wird man eigentlich hysterisch?, fragte sie sich.
Wie auch immer, Leo traf pünktlich bei der Großmutter ein. Diese gratulierte ihr zum Geburtstag und überreichte ihr, noch während sie sprach, einen kleinen Beutel aus mit Perlen besticktem Hirschleder. Zum Vorschein kam eine Silberkette mit einem Talisman: eine Vogelfeder, ebenfalls aus Silber, mit einem großen tiefblauen Türkis. Leo bedankte sich innig und von ganzem Herzen. Vor Freude fiel ihr nichts anderes ein, was sie noch hätte sagen können.
»Diesen Schmuck hat mir Hugo geschenkt, nachdem wir beschlossen hatten, zu heiraten«, sagte ihre Großmutter mit einer Stimme, die seltsam bewegt klang »Der Schmuck stammt von seiner Mutter Melania. Hugo Cloud Singer Walker war ein Dakota-Sioux, wie du weißt. Noch im 18. Jahrhundert gehörte sein Volk zu den mächtigsten Stammesverbänden Nordamerikas. Die Sioux hat man zwar besiegt, aber niemals unterworfen! In ihrer Tradition gelten Türkise als heilig. Jeder Stein weist eine andere Farbe auf, man findet unendlich viele Schattierungen von Blau. Die Indianer geben jedem Stein einen Namen. Es sind sakrale Gegenstände. Man muss sie mit Ehrfurcht behandeln.«
Während ihre Großmutter die Zusammenhänge erklärte, befestigte sie die Kette um Leos Hals. Das Schmuckstück war wundervoll gearbeitet. Leo schwieg ein paar Sekunden lang. Von einem Atemzug zum nächsten war sie in einen seltsamen Bewusstseinszustand getreten, der in ihr eine kurze, heftige Unruhe auslöste, eine Welle euphorischer Erregung. Sie berührte den Talisman mit der Fingerkuppe, und Katja sagte:
»Du musst ihm einen Namen geben. Das braucht nicht unbedingt heute oder morgen zu sein. Lass dir Zeit.«
Sie füllte Leos Tasse, gab Schlagsahne hinzu. Inzwischen strich Bijou, die braune Perserkatze mit den goldenen Augen, um Großmutters Sessel herum, bevor sie lautlos auf ihre Knie sprang und sich gemütlich zusammenrollte. Katja streichelte sie geistesabwesend.
»So. Und jetzt hör mir zu. Und tu mir den Gefallen, unterbrich mich bitte nicht. Was du im Augenblick denkst, ist nicht relevant, und ich muss mich konzentrieren.«
Leos Großmutter Katja war in Wien geboren. Der Vater war ein angesehener Arzt, die Mutter Cellistin. Als Kind hatte es ihr an nichts gefehlt. Geld, Bildung, Kultur öffneten ihr die Tür zur feinen Gesellschaft. Ihre Erinnerungen an damals waren verzierte Kronleuchter, bestickte Tischdecken, wertvolle Teppiche und erlesenes Porzellan. Sogar das Nachtgeschirr in ihrem Kinderzimmer entstammte der königlichen Manufaktur in Delft. Darüber hinaus hatte sie das musikalische Talent ihrer Mutter geerbt. Aber Katja spielte nicht Cello, sondern Klavier. Sie spielte wundervoll und ohne Noten. Irgendwie, auf irgendeine Weise, konnte sie das, ohne dass man sie jemals weitergehend unterrichtet hätte. »Mein Klavierlehrer war eine Niete«, kommentierte sie später die Situation. Sie hatte bereits mit sieben Jahren ihre ersten öffentlichen Auftritte. Doch dann kam der Krieg. Der Krieg veränderte alles.
Heute blickte sie auf eine lange Karriere als begeistert gefeierte Pianistin zurück, aber seit einigen Jahren gab sie nur noch Benefizkonzerte. »Es macht mich glücklich, Sinnvolles zu tun«, hatte sie unlängst zu Leo gesagt. »Die ganz großen Momente sind für mich nicht, wenn ich vor einem Publikum in Abendrobe spiele, sondern wenn ich spüre, dass wir gemeinsam ein konkretes Zeichen gegen Ungerechtigkeit setzen.«
Katja hatte auf einem verstimmten Klavier in den Ruinen der Markthalle von Sarajevo gespielt, wo es nach Pisse stank. Sie hatte in Pflegeheimen für Schwerkranke und Behinderte gespielt. Und kürzlich für den WWF, der ein Spendenkonto zum Schutz der Naturwälder eröffnet hatte. All das beeindruckte Leo sehr. Ihr gefielen Katjas Weisheit und bisweilen krude Ehrlichkeit.
Katja hielt sich fast übertrieben gerade, den Kopf hoch erhoben. Sie hatte sandfarbenes Haar, und ihre Augen schimmerten wie polierter Schiefer. Sie benutzte nur selten eine Lesebrille. Ihr Blick war intensiv und forschend, ihre Lippen hatte sie stets rot geschminkt. Sie trug am liebsten Weiß: weiße Hose, weißer Pullover mit Rollkragen. Und sie machte nie einen Fleck. Im Sommer verbarg sie ihren Hals unter einem »Carré« von Hermès, von denen sie eine ganze Sammlung besaß. Dazu silberne Armspangen oder eine Brosche mit Korallen und leuchtenden Türkisen. Gold mochte sie nicht. »Gold bringt Unglück«, sagte sie.
Katja ließ sich gerne bewundern. Sie erweckte den Anschein von Hochmut, allerdings mit einer Art von distanziertem Humor, der sich bisweilen zynisch anhörte. Ihr Selbstvertrauen war unerschütterlich.
Seitdem sie sich aus dem Berufsleben zurückgezogenen hatte, wohnte Katja in Lausanne, am Quai d’Ouchy, gleich hinter dem vornehmen Hotel d’Angleterre. Ihre Sicht auf den Genfer See war dadurch eingeschränkt, aber es machte ihr nichts aus. Katja war dreimal verheiratet gewesen. Ihren ersten Mann, einen Hollywood-Star – dumm und sexy, wie sie sagte –, hatte sie nach einigen Monaten vor die Tür gesetzt. »Er trank, wurde dick und war nicht mehr interessant«, kommentierte sie lapidar. Hollywood war sowieso ein Ort, den sie ausgesprochen vulgär fand.
Danach war sie mit Max van der Weyden, einem flämischen Professor für Physik, verheiratet gewesen. Jan, ihr gemeinsamer Sohn, war in der Schweiz aufgewachsen und hatte in Gstaad im renommierten Internat »Le Rosey« studiert. Nach sechs Jahren hatten Katja und Max im gemeinsamen Einvernehmen die Scheidung eingereicht.
»Es hat uns beide lange Zeit im Inneren beschäftigt«, hatte Katja ihrer Enkelin anvertraut. »Max war gutherzig und freundlich, ein Teddybär zum Schmusen, und eine Zeit lang war es herrlich mit ihm. Er mochte auch die Musik, selbst wenn Aaron Copland ihm mehr lag als Bela Bartok. Doch Max befasste sich permanent mit Quantenphysik. Und ich verstand überhaupt nichts von der hehren Sprache der Fachwissenschaft. Ich versuchte trotzdem, bei Stimmung zu bleiben, aber wir konnten nicht verschiedener sein. Am Ende waren wir beide unglücklich. Unsere Ehe bestand nur noch auf dem Papier. Es hatte keinen Sinn mehr.«
»Jan hat viel von seinem Vater«, sagte ihre Großmutter manchmal zu Leo. »Pass auf, dass er nicht langweilig wird!« Daraufhin fühlte sich Leo verpflichtet, ihren Vater in Schutz zu nehmen.
»Du