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Das Erbe der Vogelmenschen. Federica de Cesco
Читать онлайн.Название Das Erbe der Vogelmenschen
Год выпуска 0
isbn 9783958903173
Автор произведения Federica de Cesco
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
»Ich weiß.«
»Willst du deswegen Maler werden?«
»Du meinst beruflich? Ich hatte schon eine kleine Ausstellung und konnte einige Bilder verkaufen. Aber das war halb privat. Ich komme zu nichts, wenn ich keine Preise erhalte, wenn Kunstkritiker und Sammler nicht auf mich aufmerksam machen. Dabei interessiert mich nichts anderes, als zu malen. Bei jedem Atemzug, so kommt es mir vor, entsteht in mir ein weiteres Bild. Und ich kann ja diese Bilder nicht nur einfach im Kopf behalten. Ich muss sie darstellen.«
»Und wie malst du?«
»In erster Linie gehe ich von dem aus, was ich sehe, von einer genau definierten Form. Dann bestätige ich das, was vorhanden ist, bevor ich diese Form allmählich verändere, bis ich sie völlig neu sehe.«
Gedankenversunken trank Leo einen Schluck und verzog das Gesicht.
»Wir haben zu viel geredet. Und jetzt ist der Kaffee kalt.«
»Soll ich dir noch einen holen?«
»Lieber ein Eis«, meinte Leo.
»Was für ein Aroma?«
»Schokolade und Erdbeeren.«
Kenan stand auf, um das Eis zu holen. Leo blickte ihm hinterher, ihre Gedanken glitten von Schicht zu Schicht, wobei sie leicht mit dem Fuß wippte. Kurze Zeit später kam er wieder zurück und reichte ihr ein Eis am Stiel. Sie probierte und nickte mit ernster Miene.
»Das Eis schmeckt gut.«
Kenan setzte sich wieder zu ihr.
»Vor ein paar Tagen habe ich ein Bild gemalt. Willst du es mal sehen?« Er zog sein Smartphone hervor und zeigte ihr das Foto. Sie betrachtete es eingehend, während sie ihr Eis schleckte.
Das Bild stellte, linear angedeutet, die Umrisse eines Vogels dar. Leo musste es genau betrachten, um den Vogel zu erkennen. Der Hintergrund war blau, violett und Purpur, aber jede Farbe schien hinter der nächsten zu verschwinden. Ein Sonnenuntergang? Ein Tagesanbruch? Man konnte es nicht genau sagen. Der Maler hatte lediglich etwas dargestellt, was er mit seinen inneren Augen sah: undefinierte Formen undefinierbarer Dinge. Der Vogel selbst war nur undeutlich erkennbar. Als würde er in die Sonne eintauchen.
»Es sieht aus, als ob sich sein Kopf auflöst«, bemerkte Leo.
»Ich denke, das liegt an den Acrylfarben. Aber irgendwie entspricht das meiner Aussage. Deswegen habe ich auch nichts daran geändert.«
Leo gab ihm das Smartphone zurück. Ihr Gesicht wirkte abwesend. Kenan wusste plötzlich nicht, ob sie sich das Bild überhaupt richtig angesehen hatte. Wenn nicht, wäre er deswegen nicht beleidigt gewesen. Auf einmal fragte sie ruhig:
»Was soll das für ein Vogel sein?«
Er atmete erleichtert auf. Anscheinend gefiel ihr das Bild.
»Ein Geier.«
»Ach! Warum ausgerechnet ein Geier?«
»Weil ich Geier mag. Sie kommen mir unglaublich intensiv, unglaublich geheimnisvoll vor.«
»Sie sind besondere Vögel«, sagte Leo.
»Und sie sind sehr groß, nicht wahr?«, entgegnete Kenan.
»Sie zählen mit zu den größten. Ihre Flügel erreichen eine Spannweite von über 2,5 Metern. Vor nicht allzu langer Zeit wurden in Tibet die Verstorbenen auf hölzerne Bestattungstürme gelegt, die ›Türme des Schweigens‹. Die Angehörigen ließen die Mönche kommen, die besondere Gebete sprachen und die Geier herbeiriefen. Die Vögel sorgten dafür, dass das Fleisch der Toten – Menschen und Tiere – nicht verweste. Krankheiten konnten sich nicht verbreiten, die Luft blieb sauber und die Erde fruchtbar. Aus diesem Grund galten sie als heilige Vögel. Aber dann kamen die Chinesen, erschossen die Mönche und die Geier und machten alles kaputt. Sie machen ja systematisch kaputt, was ihnen nicht in den Kram passt.«
»Die Tibeter sind Buddhisten«, sagte Kenan. »Entsprach der Brauch denn ihrer Religion?«
»Absolut. Die Geier vernichteten den alten Körper, befreiten die Seele und machten sie bereit für die Wiedergeburt. Man nannte sie die ›Boten des Himmels‹. Ähnliche Zeremonien gab es im Iran, in Armenien, in den Karpaten und auch bei den nordamerikanischen Ur-Einwohnern.«
»Seltsam«, meinte Kenan »Aber auch irgendwie … nobel.«
Leo nickte zerstreut. Die Welt der Erscheinungen – sie hatte oft genug mit ihr zu tun. Dabei geriet sie ins Zittern. Dinge regten sich in ihrem Kopf, die sie nur mühsam beherrschte. Und da war etwas in der Mitte, das nicht zu sehen war. Noch nicht. Katja hatte sie ja gewarnt. Es gehörte zu ihrer Natur, dass sie weitergehen konnte – vorausgesetzt, dass sie dazu bereit war. Und jetzt war sie noch nicht dazu bereit. »Ich muss das alles Schritt für Schritt verarbeiten«, dachte sie. »Wenn ich zu viel denke, wird mir schlecht. Und er darf jetzt noch nichts davon merken.« Nach ein paar Atemzügen ließ das Zittern nach. Sie stellte fest, dass Kenan sie anstarrte, und sie fragte sich leicht verunsichert, ob ihm wohl etwas aufgefallen war. Offenbar nicht, zum Glück. Er hatte sie lediglich etwas gefragt. Leo fuhr leicht zusammen.
»Was hast du gesagt?«
»Dass das Museum in acht Minuten schließt.«
»Ach so! Ich habe gar nicht mehr daran gedacht. Um sechs treffe ich meinen Vater. Er hat den ganzen Tag in der Library verbracht und wird bestimmt Hunger haben. Willst du mit uns essen?«
»Oh, sehr gerne! Aber ich will ihn keineswegs stören.«
»Du wirst ihn stören. Alle stören ihn. Aber das ist sein Problem. Lass dich nicht davon beeindrucken. Er kann sehr nett und witzig sein. Magst du thailändische Küche?«
Sie zog ihr Smartphone aus der Jackentasche und rief Jan an.
»Hm?«, brummte er.
»Ich habe einen jungen Mann im Museum getroffen. Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn mitbringe?«
»Ich habe etwas dagegen.«
»Warte nur ab, du wirst ihn mögen.«
»Ganz gewiss nicht. Außerdem habe ich Kopfweh. Es war viel zu heiß in der Library.«
»Er ist Kunststudent und will Maler werden. Er hat mir ein Bild gezeigt. Das wird dir gefallen.«
»Eine Dusche würde mir besser gefallen.«
»Ach, komm, Papa! Sei nett zu ihm.«
Sie wusste, dass Jan am liebsten darauf verzichten würde, seine Kopfschmerzen mit einem Fremden zu teilen. Doch letzten Endes stimmte er zu:
»Na gut, bring ihn mit!«
Leo wusste nicht, wozu es nützlich sein sollte, dass ihr Vater Kenan kennenlernte. Es war einfach nur eine spontane Eingebung. Aber sie hatte gelernt, auf Eingebungen zu hören. Früher oder später ergaben sie stets einen Sinn.
7 ER HATTE SICH ALLES GANZ ANDERS VORGESTELLT
Sie gingen über den Russell Square, auf den die Sonne immer noch heiß herunterbrannte und der mitten in Bloomsbury lag, einem sehr smarten, lebendigen Viertel. Kenan erklärte, dass sich die Slade School of Fine Arts ganz in der Nähe befand.
»Ich gehe zweimal am Tag hier vorbei und füttere die Eichhörnchen. Einige Tiere kennen mich inzwischen recht gut. Aber jetzt zeigen sie sich nicht. Zu viel Sonne. Sie schlafen noch in den Bäumen.«
Sie fanden das Restaurant in einer nahen Seitenstraße. Jan saß schon da, den Kopf in beide Hände gestützt. Er sah kurz auf, als Leo mit Kenan an den Tisch trat, hob lasch die Hand, als ob er ihn wegscheuchen wollte, deutete jedoch auf einen Stuhl.
»Setzen