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"Issue Does Not Exist"],"errors":{. Jakob Wassermann
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Год выпуска 0
isbn 9788711488294
Автор произведения Jakob Wassermann
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Doktor Maspero war der letzte, der vor den trostlosen Beraubten hintrat. Er schaute prüfend zu dem Lehrer empor und sagte übelgelaunt: „Es ist ja gerade so, als ob Sie eine lebendige Familie verloren hätten. Pfui, Unruh, das heisst sich zum Narren stempeln.“
„Lieber Herr Doktor,“ entgegnete der Schulmeister unwillig und ohne die Stimme zu erheben, „wer etwas verliert, muss am besten wissen, was er verliert.“
Der Doktor brummte, zog die Augenbrauen in die Höhe, kicherte in sich hinein und wünschte gute Nacht.
Fünftes Kapitel
Doktor Maspero hatte gut lachen; er wusste, wo die Bücher hingeraten waren. Nicht ganz ein Komplott und mehr als ein Einfall trug die Schuld. Das kleine Männchen mit dem Alleswissergesicht versuchte sich gern in der Seelenheilkunde. Auch der Apotheker und der Schulrat hatten Teil daran. Diese behördliche Person billigte das Treiben des Lehrers nicht. Obwohl von Pflichtversäumnissen bislang keine Rede sein konnte, — hinter stummen Bücherdeckeln erhebt sich oft ein unheilvoller Geist. Niemand konnte das gründlicher bestätigen als der Baron. „Verderblich ist das Wort,“ lautete sein gebildetes Orakel. Der Doktor seinerseits mischte sich mit Leidenschaft in fremde Angelegenheiten. Er war ein Schnüffler und misstraute allen Leuten, bei denen er Geheimnisse vermutete. Er hasste die Schweigenden, hasste die Leute, die anspruchslos ihres Weges gehen und in sich verschliessen, was sie im Innern beschäftigt. Er hasste jene, die sich für irgend etwas mit wahrem Gefühl einsetzen und hielt sie für Lügner. Jeder Einsame galt ihm als Verräter an einem öffentlichen Wohl. Seine Zwerggestalt war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes. War er den andern körperlich unterlegen, so wünschte er doch brennend, sonstwie zu herrschen. Daher sein penetranter Witz, seine angebliche Verachtung der Frauen; daher seine seltsame Eifersucht auf alles Grosse, was immer in der Welt geschah; daher seine Freude, sogenannte Wahrheiten zu sagen, seine unermüdliche Geschwätzigkeit, seine Gier, zu verurteilen, gehört zu werden, belacht zu werden, zu glänzen. Er war der erste gewesen, der Unternehmungen gegen die Bücherwut des Lehrers geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er sagte es. Aber es waren Worte geblieben bis zum Tag der Feuersbrunst. Da hatte er das Herausschleppen der Kiste beobachtet und war zum Bäcker geeilt, der für einen guten Spass alles Brot im Ofen schwarz werden liess. Alsbald war die Kiste unter dem Ladentisch verschwunden, und der Bäcker drückte sein gründliches Missfallen an der Studierwut des Lehrers aus, vermutete Schwarzkunst und teuflische Zauberei dahinter. Der Doktor empfahl ihm, die Bücher ordentlich zu bewahren, und verhielt sich so, als ob ein reformatorischer Gedanke jeden Schritt in dieser Angelegenheit vorbestimmt habe.
Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes System zu der Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen, ein System, welches zugleich philosophischer und pädagogischer Natur war. Als er sich der letzten Konklusion nahte, bemerkte er die Gestalt des Provisors Siebengeist, die am Zaun des Kasinogartens lehnte, als ob sie steif gefroren wäre, und die Augen des jungen Mannes beobachteten gespannt den Mond am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor stehen und sagte mit unsicherer Bosheit: „Sie sind mir ein gespenstischer Herr da.“
Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der Seite an. „Dieser Kerl ist mein Feind,“ erwiderte er langsam, die Faust gegen den Mond ballend. „Ich kann nicht schlafen, so lang er am Himmel steht.“
„Also ein Romantiker,“ meinte der Doktor, spöttisch in den Ton des Arztes verfallend, „ein Romantiker mit kalten Füssen also.“
Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Strasse hinab. Der Herr Adjutant kam ihnen entgegen, grüsste schreiend und lachend, als ob er eben von einer Amerikareise zurückgekehrt wäre und verschwand lautlos in der Nacht. Selten sind die Schlauen auch im Schweigen schlau. Der Doktor erzählte Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen die Geschichte von den geraubten Büchern, und das philosophische System enthüllte sich in Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu antworten. Er nahm Schnee in die Hand und drückte ihn gegen seine Stirne. „Der Mond ist mein Feind,“ murmelte er. „Mich verdriesst sein Grinsen, seine Klarheit, sein erborgtes Licht, seine anspruchsvolle Nutzlosigkeit. Er steht da droben und hat sein Amüsement von der Welt. Und ich, ich muss mir den Kopf im Schnee kühlen, fiebernd vor Überdruss.“
Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte verdutzt sein Haustor an, wusste nichts zu entgegnen als: „Sie sind verliebt, junger Freund.“ Er hatte bei den Redereien des Provisors ein Gefühl wie jemand, den man aus dem ersten Schlaf weckt, um ihm die Anfangsgründe der Eskimosprache beizubringen. Doch tat er verständnisvoll aus Furcht vor einer möglichen Überlegenheit des andern.
„Richtig: eine meisterhafte Vermutung!“ rief Siebengeist, mit dem Stock an das morsche Tor schlagend, dass es drinnen dumpf widerhallte.
„O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,“ sagte der Doktor. „Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie aus, was ist sie, wie ist sie?“
„Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, lügnerischer Mund. Wie sie ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso habgierig wie eitel, ebenso frech wie leer, ebenso gestorben wie die andern Leute hier herum. Aber Sie denken, ich spiele deshalb den Verschmäher? Ei, Doktor da irren Sie sich. Der Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht für die taube Nuss.“
Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt. Es ging da ein junges schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Kopf mit einem Schal verhüllt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile hätte, denn sie ging mehr für sich hin, verloren und abgekehrt, den Kopf leicht vorgeneigt, und in ihrem Schritt war sowohl Müdigkeit als auch Verträumtheit enthalten. Siebengeist folgte ihr mit den Blicken, als ob sich sein Schatten in Bewegung gesetzt hätte, denn es war schon etwas Ungewöhnliches, dass zur Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der nicht Eile zeigte, schlafen zu gehen.
Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloss. Herr Maspero, Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige Nachsicht durch ein Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der beim Anblick der Spielflinte eines Knaben an die grossen Schlachtenkanonen denkt. Dann verabschiedete er sich in der akademischen Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den öden Flur seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine nimmermüde Stehuhr ihr schläfriges Ticken seit Jahrzehnten ertönen liess. Sechstausend Nächte und mehr noch lief das Werk im stummen Pflichtgefühl, und wenn es abends zehn Uhr war, kreischte der Schlüssel im verrosteten Schloss, und der Zwergdoktor sagte irgend einem gute Nacht, der vor dem Tore stand, riegelte sich ab von der Welt, machte die alten Dielen durch seine kleinen Füsse knarren, hob an der Treppe das Kerzchen gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ängstlich den Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor sich, das leutselige oder sarkastische Lächeln verschwand. Unsichtbare Schatten der Zukunft schienen in dem Stillen Haus emporzuwachsen, vom Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, wenn sie einmal so weit gelangten, die beiden geschäftigen Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben zu heissen. So wird den Masperos allmählich die ganze Welt zu einer Uhr: die Hausmauern, von denen der Kalk abbröckelt; der Nachtwächter, dessen Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der Wald, von dessen Bäumen die Blätter fallen; die Erde, die sich mit Schnee bedeckt: die Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln blutet; ja, sogar die Kinder, denen der Schuster von Jahr zu Jahr grössere Stiefeln machen muss.
Am nächsten Tag wussten die Sechsundsechzig von komischen Sachen zu wispern, die sie in der Schule gehört. Von zehn bis elf war Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen Namen und Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig zu lernen. Heute war der Lehrer, die Hände auf dem Rücken, hin- und hergegangen und hatte unaufhörlich geredet. Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die Geschichte sei nichts anderes als die Wissenschaft von der Ungerechtigkeit. Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen preisgegeben, und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht, so seien seine Augen matt, seine Sinne erschöpft vom Anblick