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      Bevor Frost sich über die Gründe Gedanken machen konnte, tauchten Bingham und der Butler hinter ihr im Eingang der Küche auf. Der Butler lud soeben ein Gewehr durch und zielte auf sie. Bingham hatte eine Pistole in der Hand.

      »Die Polizei ist bereits auf dem Weg. Es gibt kein Entkommen«, knurrte Bingham. »Geben Sie mir mein Buch zurück.«

      Frosts Augen huschten durch die Küche. Mit dem Rücken zur Hintertür probierte sie es erneut mit dem Schloss, doch wieder funktionierte es nicht. Sie saß in der Falle.

      Innerhalb von Sekunden hatte sie alle möglichen Auswege durchdacht. Ihr blieb nur einer übrig: Sie musste zurück ins Foyer und zum Haupteingang raus. Aber dafür musste sie erst einmal an Bingham und dem Butler vorbei.

      Langsam und mit erhobenen Händen bewegte sie sich Schritt für Schritt an der Wand entlang und brachte den Arbeitstisch zwischen sich und die beiden Männer. Der Butler bewegte sich Richtung Hintertür, Bingham blieb im Kücheneingang stehen.

      »Sie sitzen in der Falle, Missy«, schnarrte Bingham. Sein grauer Schnurrbart zuckte. »Mein Buch, wenn ich bitten darf.«

      Frost schwieg. Auf dem Tresen hinter ihr lagen mehrere Messer.

      »Ah, ah, an Ihrer Stelle würde ich das nicht tun«, sagte Bingham, der ihren Blick bemerkt hatte. »Mr. Archer, erschießen Sie sie, sobald sie das Messer nimmt.«

      Frost fluchte innerlich und machte einen weiteren Schritt zur Tür. Der Butler hatte mittlerweile fast die Hintertür erreicht und schnitt ihr auch diesen Weg ab. Selbst wenn das Schloss sich nicht öffnen ließ, hätte sie immerhin die Tür eintreten können. Aber natürlich fielen ihr solche Sachen immer im Nachhinein ein.

      Bingham fühlte sich anscheinend auf der Siegerseite, denn er senkte die Pistole. Frost war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Jetzt!

      Sie packte eine der schweren Pfannen, die über dem Herd hingen, sprang hinter dem Arbeitstisch hervor und schwang die Pfanne mit aller Kraft gegen Binghams Kopf. Der Mann ging mit einem überraschten Seufzer zu Boden. Der Butler ließ Frost kaum Zeit, über Bingham zu steigen. Ein Schuss löste sich, Frost fuhr herum. Ihre Ohren klingelten vom lauten Knall. Ohne sich noch einmal umzuschauen, rannte sie den engen, dunklen Flur entlang, brach durch eine Tür und fand sich im Foyer wieder. Der Butler rannte hinter ihr her.

      »Stehen bleiben!«, brüllte er.

      Frost zuckte zusammen, als die nächste Kugel dicht an ihrer Schläfe vorbeizischte. Sie hatte die Haustür erreicht und riss sich den Handschuh herunter.

      »Bitte, bitte, funktionier diesmal«, murmelte sie, als sie die Hand auf das Schloss legte. Sie atmete erleichtert auf, als sie die vertraute Wärme spürte und die Mechanismen sich in Bewegung setzten.

      Sie prallte in die Wand aus Kälte und Schnee, als sie die Treppe hinunterrannte und gleich darauf über den hüfthohen Zaun des Parks gegenüber stieg. Sie warf sich hinter das nächstbeste Gebüsch und rang nach Atem. Hundegebell und Rufe drangen an ihre Ohren, sie sah die wackligen Lichtkegel von Handlaternen. Jemand stieß in eine Trillerpfeife.

      Sie musste von hier verschwinden. Ächzend stemmte Frost sich hoch und rannte geduckt auf die andere Seite des kleinen Parks. Schneeflocken blieben an ihren Wimpern kleben. Hastig vergewisserte sie sich, dass die Luft rein war, und suchte Schutz hinter der nächsten Häuserzeile.

      Drei Straßen weiter hielt Frost einen Moment inne, um zu Atem zu kommen. Das war verdammt knapp gewesen, dachte sie, viel zu knapp. Warum hatte sie das Schloss der Hintertür nicht öffnen können? Ein paar Stunden zuvor hatte es doch noch reagiert. Irgendetwas an der Sache stank gewaltig, schoss es ihr wieder durch den Kopf.

      Frost vergewisserte sich, dass das Buch immer noch sicher in ihrer Tasche war. Das Leder schützte es vor der Nässe, gut. Dann machte sie sich auf den Heimweg.

      Das Haus, vor dem Payne stand, sah aus wie jedes andere in der Gegend um Whitechapel. Backsteinmauern, vergilbte Vorhänge hinter schmutzigen Fensterscheiben, und neben der Eingangstür stapelten sich Unrat und Schmutz. Payne wartete, bis ein mit Säcken beladener Karren an ihm vorbeigerattert war, und überquerte die Straße. Die Haustür stand offen – hatte er etwas anderes erwartet? Das Treppenhaus roch nach altem Tabak und Pisse. Aus einer Wohnung im Erdgeschoss drang das Weinen eines Kleinkindes.

      Payne stieg die knarrende Treppe hinauf in den ersten Stock. Vor der Tür mit der Nummer vier blieb er stehen und drehte den Knauf. Abgeschlossen. Er zog ein schmales Etui aus dem Mantel und zwei metallene Stifte daraus hervor. Ohne sich um das Geschrei aus der Erdgeschosswohnung zu kümmern, ging er in die Hocke. Das billige Schloss gab sehr schnell auf.

      In der kleinen Wohnung herrschte diffuses Dämmerlicht. Payne schloss die Tür hinter sich und blieb reglos stehen. Der Lärm der Straße drang dumpf durch die Fenster. Irgendwo tropfte Wasser. Es roch nach verbrannter Kohle und abgestandener Luft.

      »Na, dann wollen wir mal sehen, wo du sie versteckt hast, Granger.« Payne schmunzelte und streifte lederne Handschuhe über.

      Er durchwühlte die Papiere auf dem überladenen Schreibtisch, zog Schubladen heraus und leerte sie auf dem Boden aus. Mit der Kommode neben dem armseligen Kamin verfuhr er ebenso. Dann wandte er sich dem Schlafzimmer zu. Im Schrank fand er nur ein paar Kleidungsstücke, die fürchterlich nach Mottenkugeln müffelten. Dann fiel sein Blick auf das Bett und die Matratze. Mit einer Hand stemmte er die Matratze hoch, in der anderen hielt er ein Klappmesser. Der Inhalt der Matratze quoll ihm stinkend entgegen, als er die Hülle aufschlitzte. Doch auch hier fand er nichts.

      Payne unterdrückte einen Fluch und ging zurück in den größten Raum. Seine Arbeit hatte ein mächtiges Durcheinander hinterlassen. In einer Ecke stand ein niedriger Tisch mit Flaschen darauf. Payne schenkte sich ein Glas Single Malt ein und schwenkte das Glas nachdenklich. Das war ein teurer Whisky. Wie konnte sich Granger den leisten?

      Payne räumte den Sessel frei, drehte ihn so, dass er die Wohnungstür direkt im Blick hatte, und setzte sich hin. Irgendwann musste Granger nach Hause kommen. Payne hatte Zeit.

      Lange musste er nicht warten. Sein Glas war noch nicht ganz leer, als er Schritte auf der Treppe hörte. Gleich darauf klirrten Schlüssel, der Türknopf drehte sich.

      »Was zur Hölle …?!«

      Ein schlaksiger Mann blieb mit offenem Mund in der Tür stehen und starrte auf das Chaos in seiner Wohnung.

      »Hallo, Granger.«

      Der Mann zuckte zusammen und machte einen leichten Satz. Entsetzen schlich sich in seine grauen Augen, als er Payne erblickte und erkannte.

      »Sind das neue Schuhe?« Payne leerte gemächlich das Glas.

      »Mr. Payne, was soll das? Ich verlange eine Erklärung, auf der Stelle!« Granger plusterte sich auf, als er den ersten Schreck verdaut hatte. Sein Gesicht lief rot an. Die Farbe biss sich mit dem Rot seiner Haare. Mit einer Handbewegung deutete er auf die Unordnung in der Wohnung.

      Payne stand auf und reckte sich. Granger wich einen halben Schritt vor ihm zurück. »Wo sind die Pläne?«, fragte Payne gelassen und stellte das leere Glas auf den Schreibtisch.

      »Pläne? Welche Pläne? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.« Er hob die Hände. Payne bemerkte zufrieden, dass der Mann zu schwitzen begann.

      »Die Pläne, die du aus Mr. Greysons Büro gestohlen hast, natürlich. Als sein Assistent müsstest du das eigentlich wissen.«

      Er wich erneut einen Schritt zurück. Payne bemerkte, wie er seinen Körper anspannte. Mit der linken Hand tastete der Mann beinahe unauffällig nach dem Brieföffner, der auf dem Schreibtisch unter Papieren begraben lag. Paynes Mundwinkel zuckte. Es war beinahe lächerlich.

      Mit einer blitzschnellen Bewegung packte er Grangers Hinterkopf. Der Rothaarige krachte mit dem Gesicht voran auf die Schreibtischplatte und jaulte auf. Payne hörte das unmissverständliche Knirschen

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