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Jahrhundert Raum geschaffen für eine grundlegende Veränderung der Missionspraxis.

      Der Kolonialismus war eng verbunden mit dem Geist der Aufklärung. Obwohl die Evangelikalen der Ideologie der Aufklärung harten Widerstand leisteten, sind doch manche ihrer Ergebnisse auch in die Theorie und Praxis der Mission eingeflossen. Die Vernunft wurde ein wesentliches Element der Theologie. Der Glaube an die menschliche Machbarkeit erhielt durch den wirtschaftlichen und technischen Vorsprung des Westens kräftigen Aufschub. Als in Edinburgh die große Missionskonferenz stattfand, zweifelte kaum jemand an der Überlegenheit der westlichen Kultur. Die Ineinssetzung von abendländischer christlicher Kultur mit dem Evangelium führte dazu, dass die Missionen zusammen mit der Bibel auch die westliche Lebensweise in die Kolonien exportierten. Diese Überlegenheit ist unterdessen Vergangenheit, aber die Verquickung von Mission und Kolonialismus ist eine Last der Geschichte, die noch nicht überwunden ist.

      Die kulturellen Veränderungen, die heute auf die Mission einwirken, haben nicht zuletzt mit der massiven Verschiebung des Christentums von Nord nach Süd zu tun. Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war das Christentum hauptsächlich eine westliche Angelegenheit. Der überaus größte Teil der Christen lebte in der nördlichen Erdhälfte. Bedingt durch den Erfolg der Mission in den Ländern des Südens und den Niedergang der Kirche in ihren europäischen Stammlanden, hat sich das Gesicht des Christentums entscheidend verändert. Heute befindet sich der weitaus größte Teil der Evangelikalen einschließlich der Pfingstkirchen in der südlichen Hemisphäre. „Das Zeitalter des westlich geprägten Christentums wird noch zu unseren Lebzeiten zu Ende gehen und das neue Zeitalter des ‚südlichen Christentums‘ bricht an“ (Jenkins 2006, 14). Missionare werden längst nicht mehr nur von Norden nach Süden ausgesendet, sondern zunehmend von Süden nach Norden. Die Unterteilung in sendende und empfangende Länder existiert nicht mehr.

      Diese Kräfteverschiebung hat nachhaltige Auswirkungen auf die Kirche und die Mission. Das entscheidende Element in diesem Zusammenhang war das Ende des kolonialen Zeitalters. Der Peruaner Samuel Escobar (2002, 12) trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: „Das Modell der traditionellen Mission, das aus dem Christentum und dem Zeitalter des Kolonialismus hervorging, funktioniert heute nicht mehr.“ Die Untauglichkeit des traditionellen Modells hat damit zu tun, dass mit dem Ende des Kolonialismus die Länder des Südens ihre politische und kulturelle Unabhängigkeit fanden. Im Zuge dieser Unabhängigkeit erwachten die Kirchen der ehemals kolonialisierten Länder zur theologischen Selbständigkeit. Sie erkannten, dass die westliche Theologie keine neutrale Theologie ist und dass sie ihre Ergebnisse oft zu Unrecht über den eigenen Kontext ausgedehnt hatte. Lange Zeit erachtete man die Art und Weise wie im Westen Theologie betrieben wurde als neutral. Theologie war eine akademische Disziplin und wurde in der Sicherheit des Elfenbeinturms betrieben. Sie entstand im Zentrum der Macht und war darum über weite Strecken eine bürgerliche Theologie, welche den Erhalt der Macht zementierte.

      Seit die Kirchen des Südens ihre theologische Mündigkeit entdeckt haben, wird auch evangelikale Theologie von einer neuen Perspektive aus betrieben – aus der Perspektive der Armen, Unterdrückten und Ausgebeuteten. Es ist ein Unterschied, ob man sich in Zürich oder Hamburg in relativer Sicherheit bewegt oder in Rio de Janeiro oder Bombay unter den Armen lebt. Wer die Bibel mit vollem Kühlschrank im Haus liest, versteht sie anders als einer, der in einer Blechhütte sitzt oder sich mit den Armen solidarisiert.

       hermeneutisch

      Damit ist eine hermeneutische Veränderung angesprochen, die zu unumkehrbaren Umbrüchen in der Mission geführt hat. Es ist eines der Anliegen dieses Buches, diese hermeneutischen Veränderungen nachzuzeichnen und zu zeigen, welche Möglichkeiten sie für die Erfüllung des Missionsauftrags in einer sich ständig verändernden Welt bieten. Die Hermeneutik – die Lehre von den Auslegungsgrundsätzen der Bibel – ist für das Missionsverständnis von zentraler Bedeutung. Dieser Punkt kann nicht genug betont werden, denn Mission muss ständig von der Bibel her begründet und ihre Praxis von ihr überprüft werden. Wie aber begründen wir Mission?

      Traditionell wurde die Mission mit dem Tod und der Auferstehung von Jesus und dem Missionsbefehl von Mt 28 begründet. Diese Missionsbegründung reichte für das koloniale Zeitalter aus, zumal man Mission hauptsächlich als Herausrettung einzelner Menschen aus der Welt verstand. Für unsere veränderte Weltlage aber ist die traditionelle Begründung eine zu schmale Basis, um Mission langfristig zu sichern. Diese These trifft die evangelikale Theologie an einer empfindlichen Stelle, haben die Evangelikalen sich doch immer durch ihr Bibel- und Missionsverständnis definiert. Ich werde diese These im Laufe dieses Buch erläutern und begründen. Schon jetzt kann gesagt werden, dass Mission aus biblischer Sicht ein viel umfassenderes Geschehen ist als die Rettung von Seelen aus der Welt heraus. Die Begründung der Mission darf sich nicht einzig auf das Kreuz und den Missionsbefehl von Mt 28 stützen – so wichtig diese auch sind. Und die Praxis der Mission muss weiter greifen als die bloße Verkündigung des Evangeliums – auch wenn dies in Zukunft die zentrale Aufgabe bleibt.

      Die große missiologische Veränderung im ausgehenden 20. Jahrhundert bestand in hermeneutischer Hinsicht darin, dass Mission nicht mehr nur vom Missionsbefehl her begründet wurde, sondern von der gesamten Bibel her. Die missiologische Basis wurde sozusagen erweitert. Es gab nicht mehr nur einzelne Bibelstellen, welche eine Begründung für die Mission liefern, sondern die ganze Bibel wurde missiologisch gedeutet. Die traditionelle Mission wurde hinterfragt und kritisiert. Dies geschah nicht aus mangelndem Interesse an der Mission. Im Gegenteil: Man nahm die Brille des Kolonialismus ab und versuchte Kirche und Mission von der Bibel her neu zu definieren. Konkret waren es drei Neuerungen, die einen hermeneutischen Paradigmenwechsel herbeiführten, der bedeutende Veränderungen in der Missionstheorie zur Folge hat.

      Die erste Neuerung, die zu einem veränderten Missionsverständnis geführt hat, bestand darin, dass der Kontext in den Erkenntnisprozess einbezogen wurde. In der Solidarität mit den Armen erkannte man, dass es keine neutrale Auslegung der Bibel gibt und dass dort die Botschaft des Evangeliums am klarsten erkannt wird, wo Auslegung und Dienst am Nächsten Hand in Hand gehen. Es entstand eine Hermeneutik der Betroffenheit, die ihr Zentrum nicht in der akademischen Disziplin hat, sondern im Dienst am Mitmenschen. Es setzte sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass der Kontext (die Situation) in dem sich der Ausleger oder Missionar befindet, sein Verständnis der Bibel beeinflusst. Damit aber war das Ende einer neutralen und objektiven westlichen Leseart der Bibel besiegelt.

      Die zweite Neuerung, die Anstoß zu einem veränderten Missionsverständnis gab war, dass Mission nicht mehr nur vom Tod und der Auferstehung Jesu aus begründet wurde, sondern von seinem Gesamtwerk her. Nicht mehr nur das Leiden und Sterben von Jesus und seine Auferstehung wurden als Grundlage der Mission begriffen, sondern ebenso seine Menschwerdung und damit seine Identifikation mit den Leidenden. Die Stellung Jesu zu den Sündern und den Armen und seine Konfrontation mit den Mächtigen wurden zu wichtigen Grundlagen für die Art und Weise wie Mission geschehen soll. Es kam zu nichts weniger als einer veränderten Christologie (Lehre von Christus). Die evangelikale Christologie des Westens besteht im Wesentlichen darin, dass Jesus geboren wurde, um zu sterben. Das ist natürlich richtig, aber es ist nicht einmal die halbe Geschichte. Jesus kam um ein Leben zu leben, das seine Nachfolger nachahmen sollen. Wenn das Gesamtwerk Jesu Mission definiert, dann muss Mission einen konkreten Bezug zur Welt mit ihren Nöten haben. Sie darf sich nicht auf die Verkündigung beschränken, denn das hat Jesus auch nicht getan.

      Die dritte Neuerung war der gewichtige Umstand, dass das Alte Testament als Missionsbegründung herangezogen wurde. Im Leben des alttestamentlichen Israel entdeckte man Elemente, die für eine Missionspraxis mit einem starken Weltbezug relevant sind. Israel erlebte nicht eine bloße geistliche Erlösung. Israels Erlösungwar, wie der Exodus zeigt, ebenso eine politische und gesellschaftliche Befreiung. Die Gesetze, die Jahwe seinem Volk gab, man denke an das Jubeljahr, waren darauf ausgerichtet, dass Israel volles Leben und umfassendes Heil erfahren konnte. Mit dem Blick auf das Alte Testament erkannte man, dass der Gott der Mission das Heilsein seiner ganzen Schöpfung will und dass Mission die Transformation (Umwandlung) der Strukturen (Gesetze, Gesellschaft, Staat) einschließen muss. Diese Erkenntnis wurde insbesondere in den 1980er

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