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wann er nicht seiner eigenen Absicht zuwider handeln will, unangetastet lassen muß. Von Zweifel in Religionssachen zur Leichtsinnigkeit, von Vernachläßigung des äußerlichen Gottesdienstes zur Geringschätzung alles Gottesdienstes überhaupt, pflegt der Uebergang sehr leicht zu seyn, besonders für Gemüther, die nicht unter der Herrschaft der Vernunft stehn, sondern von Geiz, Ehrsucht oder Wollust regieret werden. Die Priester des Aberglaubens verlassen sich nur allzusehr auf diesen Hinterhalt, und nehmen zu demselben, wie zu einem unverletzlichen Heiligthum, ihre Zuflucht, so oft ein Angriff auf sie geschiehet.

      Solche Schwierigkeiten und Hindernisse standen dem Sokrates im Wege, als er den großen Entschluß faßte, Tugend und Weisheit unter seinen Nebenmenschen zu verbreiten. Er hatte, von der einen Seite, seine eignen Vorurtheile der Erziehung zu besiegen, die Unwissenheit anderer zu beleuchten, Sophisterey zu bestreiten, Bosheit, Neid, Verleumdung und Beschimpfung von Seiten seiner Gegner auszuhalten, Armuth zu ertragen, festgesetzte Macht zu bekämpfen, und, was das schwerste war, die finstern Schrecknisse des Aberglaubens zu vereiteln. Von der andern Seite waren die schwachen Gemüther seiner Mitbürger zu schonen, Aergernisse zu vermeiden, und der gute Einfluß, den selbst die albernste Religion auf die Sitten der Einfältigen hat, nicht zu verscherzen. Alle diese Schwierigkeiten überstand er mit der Weisheit eines wahren Philosophen, mit der Geduld eines Heiligen, mit der uneigennützigen Tugend eines Menschenfreundes, mit der Entschlossenheit eines Helden, auf Unkosten und mit Verlust aller weltlichen Güter und Vergnügungen. Gesundheit, Macht, Bequemlichkeit, Leumund, Ruhe und zuletzt das Leben selbst, gab er auf die liebreichste Weise für das Wohl seiner Nebenmenschen hin. So mächtig wirkte in ihm die Liebe zur Tugend und Rechtschaffenheit, und die Unverletzlichkeit der Pflichten gegen den Schöpfer und Erhalter der Dinge, den er durch das reine Licht der Vernunft auf die lebendigste Art erkannte.

      Diese höheren Aussichten des Weltbürgers hielten ihn indessen nicht ab, die gemeineren Pflichten gegen sein Vaterland zu erfüllen. In seinem sechs und dreyßigsten Jahre that er Kriegesdienste wider die Potidäer, die Einwohner einer Stadt in Thrazien, die sich wider ihre Tributherrn, die Athenienser, empört hatten. Allhier versäumte er die Gelegenheit nicht, seinen Körper wider alle Beschwerlichkeiten des Kriegs und Rauhigkeit der Jahreszeit abzuhärten, und seine Seele in Unerschrockenheit und Verachtung der Gefahr zu üben. Er trug, durch die allgemeine Einstimmung seiner Mitwerber selbst, den Preis der Tapferkeit davon, überließ aber denselben dem Alcibiades, den er liebte, und hiedurch aufmuntern wollte, solche Ehrenbezeigungen von seinem Vaterlande künftighin durch eigene Thaten zu verdienen. Kurz vorher hatte er ihm in einem Gefechte das Leben gerettet. Man belagerte die Stadt Potidäa in der strengsten Kälte. Andere verwahrten sich wider den Frost, er blieb bey seiner gewöhnlichen Kleidung, und gieng mit bloßen Füßen über das Eis. Die Pest wütete in dem Lager und in Athen selbst. Es ist fast nicht zu glauben, was Diogenes Laertius und Aelian versichern: Sokrates soll der einzige gewesen seyn, den sie gar nicht angegriffen. Ohne aus diesem Umstande, der ein bloßer Zufall hat seyn können, etwas zu schließen, kann man überhaupt mit Gewißheit sagen, daß er von einer starken und dauerhaften Leibesbeschaffenheit gewesen, und solche durch Mäßigkeit, Uebung und Entfernung von aller Weichlichkeit so zu erhalten gewußt hat, daß er wider alle Zufälle und Beschwerlichkeit des Lebens abgehärtet war. Gleichwohl hat er auch im Felde nicht unterlassen, seine Seelenkräfte nicht nur zu üben, sondern äußerst anzustrengen. Man sah ihn zuweilen vier und zwanzig Stunden auf eben der Stelle, mit unverwandten Blicken, in Gedanken vertieft stehn, als wenn der Geist von seinem Körper abwesend wäre, sagt Aulus Gellius. Man kann nicht läugnen, daß diese Entzückungen eine Anlage zur Schwärmerey gewesen, und man findet in seinem Leben mehrere Spuren, daß er nicht völlig davon befreyet gewesen. Indessen war es eine unschädliche Schwärmerey, die weder Hochmuth noch Menschenhaß zum Grunde hatte, und die in der Verfassung, in welcher er sich befand, ihm sehr nützlich gewesen seyn mag. Die gemeinen Kräfte der Natur reichen vielleicht nicht hin, den Menschen zu so großen Gedanken und standhaften Entschließungen zu erheben.

      Diese Methode, die Wahrheit zu erfragen, war auch die glücklichste, die Sophisten zu widerlegen. Wenn es zu einem ausführlichen Vortrage kam, so war ihnen nicht beyzukommen. Denn da standen ihnen so viel Ausschweifungen, so viel Mährchen, so viel Scheingründe, und so viel rednerische Figuren zu Gebote, daß die Zuhörer verblendet wurden, und überzeugt zu seyn glaubten. Ein allgemeines Händeklatschen pflegte ihnen selten zu entstehen. Und man stelle sich den triumphirenden Blick vor, mit welchem solche Lehrer alsdann auf ihre Schüler, oder wohl gar Wiedersacher, herabsahen. Was that Sokrates bey einer solchen Gelegenheit? Er klatschte mit; wagte aber einige gar leichte von der Sache etwas entfernte Fragen, die der hochgelehrte Mann für albern hielt, und aus Mitleiden beantwortete. Nach und nach schlich er sich der Sache näher, immer mit Fragen, und immer indem er seinem Gegner die Gelegenheit abschnitt, in anhaltende Reden auszuschweifen. Dadurch wurden sie genöthigt, die Begriffe deutlich auseinander zu setzen, richtige Erklärungen gelten, und aus ihren falschen Voraussetzungen ungereimte Folgerungen ziehen zu lassen. Zuletzt sahen sie sich so in die Enge getrieben, daß sie ungeduldig wurden. Er aber ward es niemals, sondern ertrug ihre Unart selbst mit der größten Gelassenheit, fuhr fort die Begriffe zu entwickeln, bis endlich die Ungereimtheiten, die aus den Grundsätzen der Sophisten folgten, dem einfältigsten Zuhörer handgreiflich wurden. Auf solche Weise wurden sie ihren eignen Schülern zum Gelächter.

      In Ansehung der Religion scheint er folgende Maxime vor Augen gehabt zu haben. Jede falsche Lehre oder Meynung, die offenbar zur Unsittlichkeit führet, und also der Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts entgegen ist, wurde von ihm auf keinerlei Weise verschont, sondern öffentlich, im Beyseyn der Heuchler, Sophisten und des gemeinen Volks, bestritten, lächerlich gemacht, und in ihren ungereimten und abscheulichen Folgen gezeigt. Von dieser Art waren die Lehren der Fabeldichter von den Schwachheiten, Ungerechtigkeiten, schändlichen Begierden und Leidenschaften, die sie ihren Göttern zuschrieben. Ueber dergleichen Sätze, so wie über unrichtige Begriffe von der Vorsehung und Regierung Gottes, auch über die Belohnung des Guten und die Bestrafung des Bösen war er niemals zurückhaltend, niemals, selbst zum Scheine nicht, zweifelhaft, sondern allezeit entschlossen, die Sache der Wahrheit mit der größten Unerschrockenheit zu verfechten, und, wie der Erfolg gezeigt, sein Bekentniß mit dem Tode zu versiegeln. Eine Lehre aber, die bloß theoretisch falsch, und den Sitten so großen Schaden nicht bringen konnte, als von einer Neuerung zu befürchten war, ließ er unangefochten, bekannte sich vielmehr öffentlich zu der herrschenden Meynung, beobachtete die darauf gegründeten Ceremonien und Religionsgebräuche, vermied hingegen alle Gelegenheit zu einer entscheidenden Erklärung; und wann ihr nicht auszuweichen war, so hatte er eine Zuflucht in Bereitschaft, die ihm niemals entstehen konnte: er schützte seine Unwissenheit vor.

      Hierunter begünstigte ihn vorzüglich die Methode zu

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