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löst sich von mir, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Lächeln ist fast schon entschuldigend. Als müsse sie für irgendwas um Verzeihung bitten. Muss sie nicht, schon gar nicht dafür, dass sie um ihren Sohn trauert, und heute sowieso nicht.

      »Natürlich kommt er mit. Tust du doch, Gabriel, oder?« Sie sieht mich ernst an, während sie ein Päckchen Taschentücher aus ihrer Jackentasche zieht.

      »Sicher«, murmle ich. »Klar komme ich mit.«

      John nickt, und nachdem Jackie sich die Nase geputzt hat, geht sie zu den anderen Menschen, die heute hier sind. Wir alle tragen schwarz, wir alle haben Blumen abgelegt. Nichts davon war abgesprochen.

      Sams Gesicht ist eingefallen, er sieht dünn aus. Miles steht wie ein Fels neben ihm. Mel und Mike halten sich an den Händen, und Julie … Julie ist da und doch nicht da. Sie weiß, wer schuld an dem ganzen Scheiß hier ist. Sie weiß das sehr genau. Und ich auch.

      Sie hebt den Kopf, unsere Blicke treffen sich. Ich nicke ihr zu, mehr geht nicht, mehr kann ich nicht geben. Denn sie ist es.

      Sie ist schuld an allem.

      Erst als John mich am Arm festhält, registriere ich, dass er immer noch neben mir steht. »Können wir uns heute Abend treffen? Ich muss mit dir reden.« Er schaut sich kurz um, offensichtlich soll niemand mitbekommen, dass er mich um ein Treffen bittet.

      Ich schaue ihn irritiert an. »Was ist los?«

      John sieht zerknittert aus, und ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen. Er winkt ab.

      »Heut Abend. Um sechs am See?«

      ❤

      Das Wasser glitzert in Bildern. Mal sieht es aus wie eine Wolke, die sich im Weg verirrt hat, dann wie ein Segelschiff. Doch immer spricht es.

      Den See habe nicht ich entdeckt, obwohl ich in Canterbury aufgewachsen bin. Als kleiner Junge, der seine Eltern und seinen Bruder früh verloren hat und vom Onkel aufgenommen wurde, hat es mich selten sehr weit weg von dem gezogen, was ab da mein Zuhause war. Liebe zur Natur habe ich mich erst sehr spät getraut, als ich sicherer wurde, dass mein neues Zuhause nicht einfach verschwindet.

      Yanis hat mir diesen See gezeigt. Genau das erzähle ich seinem Dad, nachdem wir eine Weile schweigend auf den See geschaut haben, jeder in seine eigenen Erinnerungen versunken.

      »Ich weiß. Er war so oft hier. Er hat den See sehr geliebt«, sagt er leise, und etwas Wehmütiges schwingt darin mit.

      »Warum wolltest du mich sprechen?«, frage ich ihn, um von den Erinnerungen abzulenken, die mich hier überkommen.

      Ich kann nicht fassen, dass John mich um dieses Gespräch gebeten hat und ich zu feige war, seinen Vorschlag dieses Ortes abzulehnen. Tatsächlich war ich anfangs oft hier, doch seit einem Jahr nicht mehr. Seit ich letztes Jahr an diesem Tag beschlossen habe, dass mein Leben weitergehen muss.

      Es tut trotzdem weh, hier zu stehen, und es fällt mir schwer, die Erinnerungen zu verdrängen, die in leisen Wellen über mich schwappen, so wie sie auch den Holzsteg umspielen.

      John seufzt leise, und ich wende mich ihm zu.

      »Steven McGuire ist gestorben.« Ich hebe fragend die Augenbrauen, und er ergänzt sofort. »Der Gerichtsmediziner, der Yanis für tot erklärt hat.«

      »Okay?« Ich habe keine Ahnung, warum er mir das erzählt.

      »Es tut mir leid, wenn ich dich damit belaste, aber ich weiß nicht … ich kann nicht mit Jackie …« Er bricht den Satz ab, aber ich verstehe ihn auch so.

      »Schon okay, sag mir ruhig, was du loswerden möchtest.«

      Sein Blick ist dankbar, und er schaut über den See, als suche er die Worte in den glitzernden Wellen.

      »Steven hatte Krebs. So schlimm das ist, manchmal hat es etwas Gutes, wenn man erfährt, dass es zu Ende geht. Es gibt einem die Chance, sein Leben in Ordnung bringen. Steven hat mich zu sich gebeten und mir etwas erzählt, was ich …« Seine Stimme bricht, bevor er sich räuspert und in sachlichem Diensttonfall weiterspricht. »Laut seiner Aussage hat er damals Yanis’ Leiche verschwinden lassen, und das, was wir … verbrannt und beerdigt hatten, war nicht mein Sohn gewesen.«

      Ich keuche auf. Das kann er doch nicht ernst meinen. »Bitte was?« Das muss ein Scherz sein. »Was heißt das?«

      John nickt düster. »Ich konnte das auch kaum glauben, aber Steven war sehr gefasst und sehr klar. Er sagte, er will mit all den Geheimnissen aufräumen, und das sei eins davon. Philippe hatte ihn damals gebeten, ihm den toten Körper zu überlassen. Steven habe ihm noch was geschuldet, deshalb hatte er ihm diesen Wunsch erfüllt und keine Fragen gestellt.«

      »Philippe? Julies Dad? Aber was wollte er denn mit Yanis’ … Leichnam?« Ich spüre die Wut wieder hochsteigen, die Wut über diese Welt, die macht, was sie will, die ihre eigenen Regeln hat. Eine Leiche verschwinden lassen? Das klingt wie aus einem schlechten Film. Mir wird übel, wenn ich auch nur über die Möglichkeiten nachdenke, was mit Yanis’ Körper geschehen sein könnte. Ist es nicht schlimm genug, dass er sterben musste?

      »Das wusste Steven nicht. Aber ich … Gabriel, ich habe es ihm geglaubt. Weißt du noch, wie Philippe mich damals davon abgehalten hat, Yanis noch einmal zu sehen? Wie gefasst er war? Leider ist Steven zwei Tage nach meinem Besuch gestorben.« Er seufzt auf, seine Stimme wird leiser und auch wenig brüchiger. »Ich habe Yanis’ Urne für einen DNA-Vergleich öffnen lassen.« Er winkt ab. »Frag besser nicht, ob das legal ist.« Er dreht seinen Kopf zu mir, und was ich in seinen Augen lese, macht mir Angst. »Es gibt keine Überreste von Knochen. Das ist nicht ungewöhnlich, aber dadurch können sie nicht herausfinden, wessen Überreste das sind. Und irgendwas sagt mir, dass Steven die Wahrheit gesagt hat und es nicht die von Yanis sind. Ich weiß nicht, zu wem ich sonst damit gehen soll. Ich bitte dich inständig, Gabriel«, seine Stimme bricht, und mit ihr mein Herz, »Finde heraus, ob mein Sohn noch lebt.«

      Ich taumle zurück und halte mich am Geländer des Stegs fest. Die Bedeutung seiner Worte tröpfelt langsam in mich.

      Finde heraus, ob mein Sohn noch lebt.

      »John!« Ich kann gar nichts sagen, ich kann nicht mal denken. Fuck. Meint er das ernst?

      Es hat so weh getan, Yanis zu verlieren, und jetzt besteht die Möglichkeit, dass er-

      »Ich weiß.« John legt mir die Hand auf die Schulter, als hätte ich nicht genug Last auf ihnen. »Ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll.«

      »Jeden, aber doch nicht mich. Was … was denkst du dir?« Ich schüttle den Kopf, viel zu entsetzt bin ich von seiner absurden Idee. Viel zu wenig verstehe ich, was er mir da eigentlich gerade sagt. »Das ist doch komplett verrückt!«

      »Ich kann niemanden sonst fragen. Julie vertraue ich nicht. Sie könnte mit Philippe darüber sprechen. Ich hab ihn zwar angerufen, aber er sagte, er könnte sich das nicht erklären und dass Steven Mist erzählt hätte, aber ich spüre, dass er mir etwas verheimlicht hat. Dass er nicht ehrlich war. Jemand … jemand muss an den Palast der Träume. Ich glaube, nur dort kann man herausfinden, was wirklich passiert ist.« Mein Blick ist offenbar so ungläubig, dass er sich zu mehr Erklärungen gezwungen sieht. »Die Schule, an der Hexen und Wächter ausgebildet werden. Sie ist in Österreich. Wenn es einen Ort mit geballtem Wissen gibt, dann ist es der Palast der Träume. Aus Philippe werden wir nicht herausbekommen. Und …« Er schaut mich zerknirscht an. »Du weißt, ich hab in meiner Stellung Kontakte. Sie suchen gerade einen neuen Küchenchef. Dir traue ich das zu. Und willst du nicht wissen, was geschehen ist?«

      Nein! Verdammt, nein! Ich bin dankbar, dass sich jedes Jahr im Herbst die Wunde wieder schließt. Jetzt an den Ort zu gehen, der Ausdruck der Welt ist, die ich verabscheue, erscheint mir wie ein schlechter Film. Aber John sieht so entschlossen aus, ich frage mich, wie genau er das schon durchdacht hat, wie lange er sich damit befasst, und warum zur Hölle er mich für einen guten Teil seines Plans hält.

      Ich schüttle vehement den Kopf. »John, du verlangst zu viel von

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