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Feldherr, ein Mann, ohne den der Staat den Feind nicht besiegen könne«, heißt es im 12. Buch seiner »Institutio oratoria«, also ein geschickter Militärstratege, »stehe wegen ganz klarer Schuld vor Gericht, wird ihm dann nicht das Gemeinwohl den Redner zum Anwalt bestellen?«101 Die Güterabwägung, die das Handeln des Redners hier bestimmen soll, ist klar: die offenbare Schuld des Feldherrn gebietet eine Verurteilung, Gemeinwohl bzw. Staatsinteresse erfordern aber einen Freispruch. Der Freispruch aus Staatsräson muss in dieser schwierigen Situation nach Quintilian das Ziel des Redners sein, und darauf soll er hinarbeiten. Die staatsethisch motivierte Entscheidung, die Straffreiheit des Übeltäters als höheres Gut über Recht und Gesetz zu stellen, verbindet sich für den Redner jetzt mit dem Persuasionsproblem: Wie kann er als Anwalt so plädieren, dass die von ihm anvisierte Straffreiheit plausibel wird, damit der Richter den Feldherrn nicht schuldig spricht und so zur Sühne für das Unrecht verurteilt? Der Redner hat damit eine zweite Entscheidung zu fällen: Er muss nicht nur die Deckung des Unrechts für sich akzeptieren, sondern er muss danach ebenfalls sein rhetorisches Vorgehen einrichten. Das heißt: Auch seine redetechnischen Entschlüsse bezüglich der Wahl der Mittel zur Anwendung psychischer Gewalt bekommen eine ethische Qualität. Wie bei einem so problematischen Fall wahrscheinlich, wird der Redner nicht mit einer simplen Darlegung des Sachverhalts wie z. B. des Staatsnotstands durchkommen, sondern er muss auch versuchen, die Wahrheit zu verbiegen bzw. zu verschweigen, also zu den bekannten rhetorischen »Tricks« von Täuschung und Lüge greifen. Dazu kommt die Erregung der Leidenschaften beim Richter bzw. bei den Schöffen. Denn die Redekunst wird dort unwiderstehlich, »wo es […] gilt, dem Gefühl der Richter Gewalt anzutun und den Geist selbst von dem Blick auf die Wahrheit abzubringen […]«, wie Quintilian ausführt. »[…] Beweise bringen es ja freilich zustande, dass die Richter unsere Sache für die bessere halten, die Gefühlswirkungen leisten es, dass sie das auch wollen […] Denn wenn sie Zorn, Vorliebe, Hass und Mitleid zu spüren begonnen haben, sehen sie die Dinge schon so, als ginge es um ihre eigene Sache, und wie Liebende über die Schönheit kein Urteil zu fällen vermögen, weil ihr Herz ihnen vorschreibt, was die Augen sehen sollen, so verliert der Richter allen Sinn für die Ermittlung der Wahrheit, wenn er von Gefühlen eingenommen ist.«102 Ein rednerisches Vorgehen wie dieses ist für Quintilian mit seiner Vorstellung von Ehrenhaftigkeit durchaus vereinbar, damit die Richter nicht – wie er sagt – »irrtümlich« richten, sondern dem Gemeinwohl und damit der Staatsräson dienen.103

      Quintilian führt in seinem Buch neben moralischen Gesichtspunkten auch erkenntnistheoretische und handlungspraktische Argumente für dieses parteiliche Lavieren der Rhetorik zwischen Nutzen und Ehrenhaftigkeit an. In einer von Notwendigkeiten und Zwängen bestimmten Welt kann es nicht immer eine säuberliche, wissenschaftlich oft erst mühsam und aufwendig erreichbare Unterscheidung zwischen Wahrheit und Irrtum geben, sondern das Handeln muss sich meist am Vorläufigen und Wahrscheinlichen orientieren. »Ist es denn nicht so«, fragt Quintilian, »dass die Rhetorik gar nicht durchaus den Anspruch erhebt, immer die Wahrheit zu sagen, wohl aber immer das Wahrscheinliche?«104 Dabei kann es sogar zu unterschiedlichen, aber dennoch gleichberechtigten Sichtweisen kommen, wie er feststellt, denn bisweilen können auch »gerechte Streitfälle zwei weise Männer in Gegensatz bringen […].«105 In diesem Fall lässt sich die Rhetorik sogar für beide Seiten eines strittigen Sachverhalts in Anspruch nehmen, eine Erfahrung, welche die Subjektivität und Parteilichkeit rhetorischen Handelns spiegelt. Zur wahrscheinlichkeitsbestimmten Sicht der Welt gehört für Quintilian zudem die Veränderlichkeit der Dinge, die je nach Umständen so und auch anders gegeben und zu bewerten sind, sei es, dass man – wiederum im Gerichtsprozess – eine Tat als bloßes Faktum hinnimmt oder aber von ihren Ursachen her beleuchtet, oder sei es, dass eine an sich gute Tat dennoch für das Staatsinteresse schädlich ist, weshalb man dann nicht zu ihr raten kann.106

      Wie man sieht, hat Quintilian die Problematik und Komplexität moralischer Fragestellungen in der Rhetorik gut beschrieben. Charakteristisch ist, dass er in seinen ethischen Überlegungen für eine flexible Anwendung von Normen plädiert, die sich nicht an fixen Prinzipien orientiert, sondern versucht, sich jedem einzelnen Fall anzupassen und ihm so gerecht zu werden. Daher misstraut er trotz seiner Empfehlung eines intensiven Ethikstudiums und seiner Orientierung an den Lehren der Stoiker doch der Philosophie bei der Lösung praktischer Fragen. Denn der Redner sollte für ihn nicht zum Philosophen werden, da keine andere Lebensform sich weiter von den rednerischen Aufgaben in der Bürgerschaft entfernt habe.107 Quintilian spielt hier die theoretische, weltabgewandte Form der Philosophie gegen die weltzugewandte, lebenspraktische Weisheit aus, wie sie in der nachahmenswerten Tugendhaftigkeit der römischen Vorfahren verwirklicht ist.108 Doch können wir als moderne Menschen mit seinen Lösungsvorschlägen nicht zufrieden sein, da er sich auf einen recht unbestimmten Tugendbegriff zurückzieht und für die ethische Urteilsbildung im Handeln nur einige wenige und dazu sehr allgemeine Maximen wie die schwierige Verbindung des Ehrenhaften mit dem Nützlichen benennt. Außerdem entscheidet sein ethisches Empfinden oft anders als unser modernes, das durch die strengen Moralbegriffe des 18. Jahrhunderts geprägt ist, wie sich vor allem an Quintilians Legitimierung des Freispruchs für einen Verbrecher aus Gründen der Staatsräson zeigt. Überdies gehört die primäre Beachtung des Ehrenhaften als Handlungsmaxime für uns heute wohl eher zum Moralkodex traditionaler Gesellschaften, wogegen die moralische Leitnorm einer modernen Gesellschaft in der Beachtung der Menschenwürde zu suchen ist. Doch dies gehört zur Frage der Gestalt einer zeitgemäßen rhetorischen Ethik, um deren Beantwortung es im Folgenden gehen wird.

       6. Rhetorik, Ethik, Gewalt und Kultur: ein Resümee

      Ausgangspunkt für die Grundlegung einer rhetorischen Ethik bleibt die Feststellung von Habermas, dass das Gewaltmoment an der Rhetorik nicht zu tilgen ist. Die rhetorische Forschung hat sich bisher vor allem mit der Frage beschäftigt, ob die Rhetorik überhaupt eine Erscheinungsform von Gewalt sei. Doch das muss man wohl als Tatsache akzeptieren. Das Problem besteht allerdings darin, ethisch akzeptable und nichtakzeptable Formen von Redegewalt zu unterscheiden und entsprechende Kriterien für den Umgang mit ihr aufzustellen.

      Aufgabe der Ethik muss es daher sein, nach diesen Formen und Kriterien zu suchen. Hinweise darauf geben die angeführten Differenzierungen des sprachlichen Gewaltbegriffs. Nach Sybille Krämer liegt dessen Quelle zum einen in der logischen Prädikation der Aussage, die Individuelles unter die Allgemeinheit des Begriffs subsumiert (langue-Aspekt), zum andern im Gewalt hervorrufenden Gebrauch der Sprache durch die Wahl von bestimmten Wörtern und Sätzen (parole-Aspekt). Für die Rhetorik – die von Krämer kaum berücksichtig wird – ist nur der zweite Aspekt, derjenige des Sprachgebrauchs, relevant. Allerdings muss hier noch weiter differenziert werden, denn die Redegewalt kann in zwei Formen auftreten: als legitime »Redemacht« im Sinne von starker Beeinflussung der Zuhörer durch den Redner, und als illegitime, »gewalttätige« Beeinflussung im Sinne von Verführung (Manipulation) und psychischer Verletzung. Krämer hat nur die negativen Folgen der Redegewalt im Blick, übersieht aber, dass starke Einwirkung auf die Zuhörer für das Erreichen der eigenen Handlungsziele auch durchaus positiv einzuschätzen ist, denn darauf beruht doch der Wert der Rhetorik. Die Redegewalt umfasst also einerseits starke Wirkung, andererseits aber auch Gewalttätigkeit, wobei die Wirkung erst durch den schädigenden Einfluss des Redners auf die Zuhörer zur Gewalttätigkeit wird, die zu ethisch nicht vertretbaren Handlungen bei ihnen führen kann. Der Redner vermag also mit seinen Worten nicht nur gewalttätig zu werden, sondern auch reaktive Gewalt bei den Zuhörern z. B. gegen Andersdenkende auszulösen. Die Skala der rednerischen Gewalttätigkeit reicht von der moralischen bis zur juristischen Dimension. Juristisch nicht erlaubt ist alles, was strafrechtlich gesehen Handlungen von manifester Schädigung anderer oder Zerstörung von Sachen nach sich zieht. Moralische Erscheinungsformen und Folgen rednerischer Gewalttätigkeit sind aber nicht so einfach zu bestimmen, da die Grenzen zwischen legalen und illegalen Äußerungen und die Spielräume dessen, was dem einzelnen Zuhörer noch akzeptabel erscheint oder nicht, nur schwer zu bestimmen sind und oft auch von Zeit und Umständen abhängen. Zu den Erscheinungsformen rhetorischer Gewalt heute gehören aber nicht nur die Methoden verletzenden Sprechens in direkter Rede wie Herabwürdigung, Bloßstellung oder Schmähung, die Krämer aufzählt und die man als Spielarten der persönlichen

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