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Jahresgespräche aufzuzeichnen, und dann jeweils eine Kopie an Klein geschickt hatte. Offenbar erwartete er, dass Klein jeweils vor einem Gespräch das des Vorjahrs noch einmal anhörte, wie er selbst es auch tat, um daran anknüpfen und die Entwicklungen weiterverfolgen zu können. Davon erzählte Klein Rivka nichts, es hätte sie noch mehr erzürnt, weil es noch mehr von seiner Zeit in Anspruch nahm – doch er hatte es immer geschafft, sich jeweils in den Wochen vor Rosch Chodesch Elul, wenn er im Auto oder in der Bahn unterwegs war, die Aufzeichnung zu Gemüte zu führen. Und nun waren diese Aufnahmen, die er alle in einer Datei gespeichert hatte, eine ideale Vorbereitung für die Grabrede.

      Als er, zu Hause angekommen, noch am selben Abend wieder in die Gespräche mit Viktor hineinhörte, überlief ihn zunächst ein Schauer, als er gewahr wurde, dass diese Stimme im Wesentlichen das war, was ihm von der Bekanntschaft mit Viktor noch bleiben würde. Auch fiel ihm mehr als je zuvor der starke russische Akzent in Viktors Stimme auf.

       Wissen Sie, weshalb ich gerade Sie um diese Sichat Nefesch gebeten habe? Sie sind jemand, der zuhören kann. Zuhören ist wichtiger als alles.

       Ich will mich bemühen. Ich spüre, etwas bedrückt Sie.

       Mein Leben.

       Ihr Leben.

       Es fährt an mir vorbei. Wie ein langsam rollender Zug, auf den man aufspringen sollte, aber bei jedem Wagen verpasst man es von Neuem.

       Aber Sie leben doch. Nichts fährt an Ihnen vorbei. Sie sind Zahnarzt. Behandeln täglich Menschen und helfen ihnen. Sie sind Ehemann. Sie sind Jude. Wie ich verstehe, bemühen Sie sich, die Mitzwot einzuhalten.

       Genau das sind die Eisenbahnwagen: der Zahnarztwagen, der Ehewagen, der Wagen mit den Mitzwot. Die rollen alle an mir vorbei.

       Sie schauen überall rein, wollen Sie sagen. Aber nirgendwo sind Sie wirklich beteiligt.

       Ich sagte ja: Sie können zuhören.

      2

      Rabbiner Bunem Kletzki war überrascht über Kleins Anruf.

      »Ich wusste nicht, dass Sie mit Doktor Ehrenreich in Kontakt waren.«

      »Seit einigen Jahren, ja.«

      »Eine fürchterliche Geschichte. Weiß man denn schon mehr über den Tathergang? Gibt es eine Spur?«

      »Das müssen Sie die Polizei fragen. Ich rufe Sie vor allem wegen eines Anliegens von Frau Ehrenreich an.«

      Kletzki schwieg einen Augenblick. »Sie hat Ihnen gesagt, dass unser Verhältnis …«

      »Ich habe aus ihren Worten herausgehört, dass es … angespannt ist. Warum eigentlich?«

      »Das müssen Sie Frau Ehrenreich fragen. Von meiner Seite gibt es dazu keinen Anlass.«

      »Lieber Reb Bunem«, sagte Klein freundlich und dennoch leicht gereizt. »Wir wissen alle, dass es immer zwei Seiten gibt. Sie werden vielleicht den Grund von Frau Ehrenreichs Zorn nicht verstehen. Aber kennen werden Sie ihn.«

      »Ich hatte nie einen Konflikt mit Frau Ehrenreich. Mit ihrem Mann schon, das stimmt. Ich glaube, ihre Abneigung gegen mich ist mehr eine Form der Loyalität zu Viktor, als dass sie persönlich wäre.«

      »Und was war Ihr Konflikt mit Viktor?«

      Kletzki seufzte. »Ich will keinen Laschon hara sprechen.«

      »Und ich will keinen Laschon hara hören«, sagte Klein leicht genervt. »Aber vielleicht hilft es ja, den Konflikt zwischen Ihnen und Sonja Ehrenreich beizulegen, wenn die Ursache analysiert werden kann. Gerade nachdem jetzt der Monat Elul begonnen hat.«

      »Es fing eigentlich sehr gut an«, sagte Kletzki nach kurzem Zögern schließlich. »Die Ehrenreichs und unsere Familie kamen beide ungefähr gleichzeitig hierher. Ich war einer der ersten Absolventen des neuen Berliner Rabbinerseminars, Viktor übernahm die Praxis in Inzlingen vom Vater eines Studienfreunds, wenn ich mich nicht irre. Jeden Schabbat marschierte er stramm eine Dreiviertelstunde in die Synagoge und wieder zurück, am Freitagabend und am Schabbatmorgen. ›Sie durchqueren ein ganzes Land, um am Schabbat in die Synagoge zu kommen‹, sagte ich ihm damals. Wir haben uns gut verstanden.«

      »Ein ganzes Land?«

      »Na ja, die Eiserne Hand.«

      »Reb Bunem, Sie sprechen in Rätseln.«

      »Die Eiserne Hand ist ein schmales Stück Schweiz, das ins deutsche Staatsgebiet hineinragt. Das muss man durchqueren, um von Inzlingen ohne Umweg nach Lörrach zu kommen. Nur ein paar Hundert Meter, aber eben ein doppelter Grenzübertritt.«

      »Ach so.«

      »Jedenfalls, ich sah ihn immer als eine Stütze der Gemeinde an, er war ziemlich aktiv. Bis vor etwa sechs Jahren.«

      Klein horchte auf. Das war kurz nachdem er Viktor in Arosa kennengelernt und bald darauf sein erstes Seelengespräch mit ihm geführt hatte.

      »Was war vor sechs Jahren?«

      »Kennen Sie Anschel Fink?«, fragte Kletzki zurück.

      »Sie meinen den Anwalt? Mit dem Viktor die Neue Mussar-Bewegung gründete?«

      Klein hörte Kletzki leise schnauben.

      »Die Neue Mussar-Bewegung. Genau die, ja.«

      »Die habe ich immer als leicht exzentrisches, aber harmloses Experiment verstanden«, meinte Klein. »Ich glaube, sie hatte zu ihren besten Zeiten etwa zwei Mitglieder.«

      Kletzki lachte bitter.

      »Exzentrisch können Sie laut sagen. Was die Harmlosigkeit angeht – kommt drauf an, was man darunter versteht.«

      »Können Sie sich etwas klarer ausdrücken?«

      »Die Neue Mussar-Bewegung verstand sich als Speerspitze gegen Chabad Lubawitsch. Oder jedenfalls verstand Viktor Ehrenreich sie so. Und weil ich Chabad Lubawitsch angehöre, hat er alles zu torpedieren versucht, was ich aufgegleist habe. Zuerst waren das nur diffuse Vorwürfe: Dass wir ein Feelgood-Judentum verkaufen und den Leuten mit unserem Maschiach-Gerede, wie er es nannte, den Kopf verdrehen. Was so üblicherweise von denen gesagt wird, die Chabad nicht mögen. Aber später hat er begonnen, regelrechte Komplotte gegen uns zu schmieden. Er hat behauptet, ich hätte Gelder der Gemeinde veruntreut, um eine Chabad-Veranstaltung zu bezahlen.«

      Klein schwieg. Viktor Ehrenreich war mit seiner Skepsis gegenüber Chabad bei Weitem nicht allein. Die Bewegung lebte von Spenden, versuchte, säkulare Juden wieder für die Religion zurückzuerobern, und sei es nur für einige Minuten oder Stunden. Sie hatte über die letzten vierzig Jahre weltweit viel Dynamik in jüdische Gemeinden getragen, zuweilen aber auch viel Streit, weil sich manche Gemeinden durch ihre hervorragend organisierten Aktivitäten mit Konkurrenz konfrontiert und in die Enge getrieben fühlten. Wenn der Rabbiner einer Gemeinde selbst der Bewegung angehörte, gab es zuweilen auch Ängste, er wolle seine Gemeinde ›auf Kurs‹ bringen. Das musste keine finanziellen Implikationen haben – aber offenbar hatte Viktor solche vermutet.

      »Frau Ehrenreich ist nie mit solchem Moizi Schem ra hervorgetreten«, sagte Kletzki, nachdem er vergebens auf eine Reaktion von Klein gewartet hatte. »Aber offenbar hat sie die Ansichten ihres Mannes verinnerlicht. Wenn sie meine Frau und mich traf, hat sie immer weggeschaut. Es sei fern von mir, dass ich cholile einer Almune nicht meine Unterstützung anbieten würde, aber …«

      Kletzkis Gesülze ging Klein auf die Nerven. Auch wenn er es übertrieben und respektlos fand, dass Sonja Kletzki als Ratte bezeichnete und nicht wusste, ob Viktors Anwürfe gegen ihn eine wahre Grundlage besaßen – viel hatte er nicht für ihn übrig. Wenn Bunem Kletzki beleidigt war und es nicht über sich brachte, Sonja anzurufen, dann sollte er dazu stehen und sich nicht in umständlichen Redeschleifen winden.

      »Hören Sie, Reb Bunem«, unterbrach er ihn deshalb. »Ich habe eigentlich vor allem angerufen,

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