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Winter ist kalt und frostig. Eine dichte Schneedecke liegt über der Landschaft wie ein Leichentuch.

       Die ersten Wölfe tauchen auf dem Hügel auf. Wie Scherenschnitte wirken ihre schwarzen Schatten auf dem weißen Grund.

       Ich zögere nicht länger und öffne die Tür. Warum wundere ich mich nicht, dass sie nicht verriegelt ist?

       »Weil du hier willkommen bist!«, flüstert die zweite Stimme.

       »Weil es eine Falle ist«, warnt die erste.

       Rasch schließe ich die Tür hinter mir. Keinen Augenblick zu früh, denn schon wirft sich ein Wolf von außen dagegen. Sein Wutgeheul dringt mir durch Mark und Bein.

       Doch dann vergesse ich die Wölfe und die Gefahr, in der ich bis eben noch schwebte. Zu wunderlich ist der Raum, den ich betreten habe.

       Flackernder Kerzenschein erhellt ihn. Das Licht fällt auf die dicht gedrängten Bilder. Kaum ein Platz an den Wänden ist mehr frei.

       Ich trete näher und betrachte die Bilder. Sie alle müssen von demselben Maler stammen. Sie tragen eine Handschrift.

       Und sie alle zeigen Kinder. Mädchen und Jungen unterschiedlichen Alters.

       Aber es sind keine fröhlichen Gesichter. Die Kinder weinen, und in ihren Mienen spiegeln sich Trauer und Leid.

       Leid, wie auch ich es empfinde.

       Und alles Leid in mir währt Ewigkeit.

       Wer sind all die Kinder? Wer hat ihnen wehgetan? Was müssen sie erlitten haben?

       Ein Schluchzen.

       Es kommt von oben.

       Zögernd gehe ich die knarrenden Stufen hinauf. Je höher ich gelange, umso schwerer fällt mir jeder Schritt. Mir ist, als würde jemand von hinten an mir ziehen, jemand, der mich schützen möchte vor dem, was mich oben erwartet. Dann aber ist es mir, als würde ich einen Stoß in den Rücken erhalten, der mich weiter hoch befördert.

       Und so geht es in einem fort. Ich werde nach hinten gezogen, dann wieder nach oben gestoßen. Wie ein Fetzenball fühle ich mich den unbekannten Kräften, die an mir zerren, ausgeliefert.

       Gleichzeitig höre ich erneut die widerstreitenden Stimmen.

       »Dort oben erwartet dich die Erkenntnis!«, lockt die eine.

       »Dort oben erwartet dich Leid«, warnt die andere. Und sie setzt hinzu: »Das Leid wird nicht allein deins bleiben. Es wird viele treffen. Es wird …«

       Die zweite Stimme verstummt. Ich vernehme das triumphierende Lachen der ersten.

       Zugleich fühle ich mich emporgetragen. Da ist kein Zurückzerren mehr in meinem Rücken.

       Halb fürchte ich mich, halb giere ich nach dem, was mich erwartet.

       Dann stehe ich dort oben. Auch dieser Raum ist von Kerzenschein erhellt.

       Nur ein einziges Gemälde hängt an der Wand. Es ist winzig, sodass ich näher treten muss, um es zu betrachten.

       Doch als ich davorstehe, kommen auch mir die Tränen.

       Denn ich sehe –

       MICH!

       Doch noch während ich das Bild anstarre, beginnt es sich zu verwandeln, und ich schaue in das weinende Antlitz eines Jungen, der mir so ähnlich sieht, als wäre er mein Bruder.

       Mein Bruder, den ich niemals hatte.

      Kapitel 1

      Ich habe die Gabe.

      Sie ist mir geschenkt worden von Gottes Gnaden.

      Ich kann sie nicht erklären oder gar beweisen. Doch sie ist in mir.

      Sie ist nicht nur ein Segen, denn sie gebiert gleichermaßen Leid und Qual.

      Der Herr Pfarrer Coctorius trat ein. Er hatte sich zuvor angekündigt und wirkte sehr niedergeschlagen. Er war ein großer, gutaussehender Mann und ein treuer Sohn der Kirche.

      Das Zimmer, das ich bewohnte, war winzig, aber doch beherbergte es einen Stuhl. Ich bat den Herrn Pfarrer, darauf Platz zu nehmen, und setzte mich selbst auf den hölzernen Rahmen der Schlafstatt, um nicht auf ihn hinabzusehen, denn dies hätte sich nicht geziemt.

      »Was führt Euch zu mir?« Ich hatte gleich erkannt, dass ihm etwas auf dem Herzen lag.

      Er wand sich zunächst, doch dann rückte er mit der Sprache heraus: »Es ist doch wahr, Ehrwürdige Frau Inquisitorin, dass es sich als nicht gut katholisch erweist zu behaupten, durch Incubi und Succubi könnten Menschen erzeugt werden?«

      »Eine höchst ungewöhnliche Frage, Herr Pfarrer. Tragt Ihr denn Sorge, ein Incubus oder Succubus könne eines eurer Schäfchen zu unzüchtigem Beischlaf verleitet haben?«

      »Mehr noch, denn wie ich eben sagte, besteht Sorge, dass es nicht bei dem Beischlaf geblieben ist …«

      Er hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt, und ich vermochte seine Besorgnis durchaus zu begreifen, verstanden es doch die Dämonen, sich durch Hexerei als Söhne und Töchter Gottes auszugeben. Wie jeder wusste, sammelten sie die Samen. Doch wie mein Mentor Heinrich Institoris im »Malleus Maleficarum« richtig sagte: Die Dämonen verüben die gar unflätigen fleischlichen Handlungen nicht der Lust wegen, sondern um die Seele und den Leib jener zu besudeln, die sich in ihrer Gewalt befinden. Als Geister haben diese Dämonen keinerlei Lustgefühl, denn sie besitzen ja keinen eigenen Körper, doch umso mehr verschafft es ihnen Befriedigung, durch das Laster der Wollust die Natur des Menschen zu zerstören. Der besudelte Mensch, durch Hexenkünste an Leib und Seele beschädigt, wird so auch anderen Lastern geneigter sein als zuvor.

      Dies alles erklärte ich Coctorius, doch beruhigte es ihn nicht sonderlich.

      »Aber heißt es nicht, dass die Dämonen den Samen sammeln, um daraus verschiedene Arten zu erzeugen? Spricht die Heilige Schrift nicht von den Giganten, die auf Erden wandeln, und von Dämonen, die aus ebensolchem Samen gezeugt wurden?«

      »Das Sammeln der Samen halte ich für eine Mär. Aber worauf wollt Ihr hinaus?«

      »Nun, wenn die Dämonen aus den geraubten Samen Wesen erzeugen, warum sollten sie es dann nicht gleich beim Beischlafe vermögen?«

      Ich vergegenwärtigte mir erneut die weisen Worte meines Gönners Heinrich Institoris und antwortete in seinem Sinne: »Wie ich sagte, dienen die unkeuschen Handlungen der Incubi und Succubi allein dem Zwecke, Körper und Seele zu beschmutzen. Zwar kann die Frau den Samen wirklich empfangen und gebären, doch können die Dämonen bei solcher Zeugung nur die örtliche Bewegung ihres Wirtes beeinflussen, nicht aber die Zeugung selbst. Insofern, lieber Herr Pfarrer, vermag ich Euch zu beruhigen, was die Verfehlung Eures Gemeindemitgliedes betrifft: An der Zeugung ist allein derjenige beteiligt, dessen Same es war, daher ist auch das geborene Kind nicht eines Dämons, sondern des Menschen. So will es der Herr, der noch immer und allzeit über dem Teufel und seinen Heerscharen steht!«

      Ich hoffte, dass Coctorius sich mit meinen Erklärungen zufriedengeben würde, denn mir knurrte bereits der Magen. Mein Besucher war vor der Morgenmesse erschienen, und ich hatte noch kein Frühstück zu mir genommen. Doch ahnte ich, dass ihn eine ganz andere Besorgnis zu mir geführt hatte.

      Ich hatte es gleich gespürt, als er eingetreten war.

      Ich habe die Gabe.

      Ich vermag die Dämonen zu schauen. Ich kann ihre menschlichen Hüllen erkennen. Daher weiß ich, dass es

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