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für Zitate aus einem düsteren Science-Fiction-Roman gehalten hätte: »Wir können uns ja mal zum Essen treffen, wenn es die Behörden wieder erlauben« oder »Meine Corona-App hat mir heute angezeigt, dass ich zwei Begegnungen mit niedrigem Risiko hatte«.

      Manchmal spreche ich mit Freundinnen und Freunden darüber, wie es wohl sein wird, wenn Corona vorbei ist. Natürlich wird es wieder einen Alltag geben. Aber wird es einfach wieder so sein wie vorher? Wird es eine Rückkehr ins alte Leben sein? Ich glaube nicht. In meinem Leben wird es eine Zeitrechnung vor und nach Corona geben. Und die Zeit dazwischen wird eine besondere bleiben. Wie werden wir einmal von dieser Zeit erzählen? So wie von dem Tag im Jahr 2001, an dem die Flugzeuge in das World Trade Center in New York rasten? Viele Menschen wissen noch, was sie an diesem Tag getan haben. Und die Welt drehte sich nach dem 11. September anders weiter als zuvor. Welche Geschichten, Bilder und Gefühle werden nach Corona bleiben?

      Ich bin mir bewusst: Ich stelle diese Fragen aus einer privilegierten Position heraus. Ich habe das Glück, dass ich bisher noch nie in meinem Leben eine solche Phase weltweiter Verunsicherung und Ängstlichkeit erlebt habe. Es ist kein Verdienst, sondern ein Geschenk, dass ich so lange selbstverständlich mit einem Gefühl grundsätzlicher Sicherheit leben konnte. Das wird mir zum einen dadurch bewusst, dass meine Eltern und andere alte Menschen, die ich augenblicklich erlebe, häufig viel gelassener auf diese Ausnahmesituation reagieren und konkrete Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte, ja sogar allgemeine Ausgangssperren erst einmal hinnehmen. Einige können das für sich auch bewusst erklären. Sie fangen dann an, vom Krieg oder von der Flucht zu erzählen, von nächtlichen Ausgangssperren oder Monaten, in denen sie wegen des Krieges nicht zur Schule gehen konnten. Eine ähnliche Haltung entdecke ich bei Freund*innen, die in den letzten Jahren auf der Flucht aus ihrer Heimat nach Deutschland gekommen sind. Sie bewegen sich in einer gewissen Souveränität und Selbstverständlichkeit in diesem Ausnahmezustand.

      Manchmal beneide ich sie um diese Gabe. Die Psychologie nennt diese Art von Widerstandsfähigkeit »Resilienz«. Es ist der Prozess, der Menschen ermöglicht, sich auf der Grundlage ihrer Erfahrungen so an herausfordernde Situationen anzupassen, dass sie dabei psychisch gesund bleiben. Sie wirken so, als pralle das, was andere überfordere, ein Stück an ihnen ab. Weil sie ihr Verhalten anpassen können, bewältigen sie kritische Situationen besser als jemand, der nicht lernen musste, in Unsicherheit zu leben.

      Dabei ist mir bewusst: Nicht alle haben die Chance, diese Widerstandskraft zu entwickeln und die persönlichen Bedrohungen gesund zu überstehen. Für viele Menschen ist längst entschieden, dass ihr Leben nach Corona ein anderes sein wird. Sie haben mit dem Einzug des Virus in ihren Alltag längst die Rückfahrkarte ins alte Leben verloren. Aus meiner Umgebung ist über viele Monate hinweg niemand ernsthaft am Virus erkrankt oder gar gestorben. Meine berufliche Existenz ist nicht in Gefahr. Mein Gehalt fließt weiter auf mein Konto. Für viele andere Menschen, deren Einkünfte weggebrochen sind, die mit Corona ihren Arbeitsplatz oder ihre Selbstständigkeit verloren haben, ist schnell klar, dass nach Corona nicht einfach alles so weitergehen wird wie vorher. Für zahllose Menschen in benachteiligten Ländern oder in Flüchtlingslagern an den EU-Außengrenzen stand schon seit Beginn der Pandemie fest: Es wird kein Danach geben. Sie werden sterben, weil sie keine Chance auf eine angemessene medizinische Versorgung haben.

      Und selbst in dem Moment, in dem mit Impfstoffen eine Erlösung nahe zu sein scheint und wieder für einen Augenblick die Hoffnung auf eine Rückkehr in mein altes Leben aufflammt, wird mir bewusst: Auch nach Eindämmung der Infektionszahlen stehen wir immer noch am Anfang einer Phase, von der wir nicht genau wissen, wie sie unsere Welt verändern wird. Aber schon jetzt beginnen wir täglich damit, Geschichten zu leben, die wir später weitererzählen werden. Ja, es sind auch Geschichten von Menschen, die abends auf ihren Balkonen stehen und zusammen mit ihren Nachbarn Lieder singen oder zu einer bestimmten Uhrzeit gemeinsam klatschen, um den vielen, die in medizinischen Berufen für andere da sind, zu danken. Es sind berührende Geschichten von kreativen Ideen, die geholfen haben, die schwierigen Zeiten zu überstehen. Schon nach den ersten Wochen macht sich in manchen Erzählungen und vor allem in privilegierten Kreisen sogar so etwas breit wie eine Art »Corona-Euphorie«. Sie berichten von einer Zunahme an Mitmenschlichkeit, beschwören gar eine Läuterung der Gesellschaft herauf oder sehen den Abschied vom kalten Kapitalismus gekommen. Ich misstraue diesen Narrativen, die sehr schnell aus dem Boden schießen und die mir doch auch nur wieder wie eine Variante von Realitätsflucht erscheinen. Ich will nicht schönreden, was mich überfordert. Und ich will nicht mal eben einer Situation einen Sinn anheften, die Millionen Menschen das Leben kostet, Existenzen zerstört und Menschen ihre Liebsten nimmt. Ich will nicht die Realität verdrängen, in der es eben nicht nur um das Tragen von Stoffmasken oder um den Verzicht auf eine Party geht. Und diese Realität erzählt mir täglich verstörende Geschichten.

      Dazu gehört die einer Bekannten, die ihre Mutter über einige Wochen hinweg nicht im Seniorenheim besuchen konnte. Die alte Frau, die vorher schon an Demenz erkrankt war, hat beim direkten Wiedersehen ihre Tochter nicht mehr erkannt. Das Wiedererkennen kehrte auch nicht mehr zurück. »Ich habe meine Mutter in diesen Wochen der Kontaktbeschränkungen verloren, obwohl sie noch lebt«, sagt mir meine Bekannte. Andere erzählen Geschichten vom Sterben ohne Abschied, von Beerdigungen im kleinsten Kreis. Und immer wieder sind es Geschichten vom Verlieren.

      Ohne vorschnell dieser neuen Realität einen Sinn anzudichten, ahne ich doch: Es geschehen längst Dinge, die Bedeutung gewinnen für das Leben, das uns nach Corona erwartet. Vielleicht werden wir später einmal davon erzählen, dass sich in dieser Zeit Maßstäbe verschoben haben. So erleben wir schon jetzt zumindest eine besondere Gemeinsamkeit: Es ist die Erfahrung, wie brüchig und gefährdet unsere Gesundheit, eigentlich sogar unsere ganze Existenz ist. Diese Erfahrung bewegt sich jenseits von Meinungen oder gar politischen Konflikten. Sie ist nicht neu, aber für viele Menschen ist sie auf bisher nicht gekannte Weise in ihren Alltag eingebrochen.

      Wir erleben, wie Populisten und selbstverliebte Staatsführer, die mit Lügen oder mit der Leugnung von Fakten Politik machen, durch ein Virus bloßgestellt werden. Die neue Realität zwingt zu einer neuen Ehrlichkeit. Und noch etwas wird sichtbar: Das Virus entfacht Diskussionen über den Stellenwert von Begegnungen, von Kultur und Bildung. Auf was können oder wollen wir eine Zeit lang verzichten? Was ist für eine Gesellschaft unverzichtbar? Der Begriff »systemrelevant« gehört schnell zu den aussichtsreichen Kandidaten für das »Wort des Jahres 2020«. Hinter diesem sehr technisch wirkenden Begriff verbirgt sich die Suche nach dem, was wichtig ist und bleibt, wenn vertraute Sicherheiten verlorengehen. Sehr bald wird deutlich, dass Berufe, die bisher schlecht bezahlt und zu wenig beachtet wurden, auf einmal als »systemrelevant« gelten. Die Diskussion um die Arbeitsbedingungen und um den Verdienst von Menschen, die in der Pflege arbeiten, rückt in den Vordergrund.

      Die Hoffnung keimt auf, dass sich nach diesem Ausnahmezustand etwas ändert. Und zwar ganz konkret, zum Beispiel in der Frage einer besseren und damit angemessenen Entlohnung der systemrelevanten Arbeit in der Kranken- und Altenpflege. Es sind eben nicht nur die Banken und die florierenden Märkte, die das Funktionieren einer Gesellschaft ausmachen. Maßstäbe können sich in einer Gesellschaft auch wieder verschieben. Und es gibt die Möglichkeit, dass sie aus einer Schieflage wieder in eine Balance finden, ausgelöst durch eine Krise, die zunächst alles aus dem Gleichgewicht bringt.

      Meine Hoffnung ist, dass die Geschichten, die von Mitmenschlichkeit und Solidarität erzählen, nachhaltiger sind als Verschwörungstheorien. Denn diese Erzählungen behalten Bedeutung für die Zeit nach der Krise.

      Es wird nicht mehr, wie es vorher war. Das begreife ich von Tag zu Tag mehr. Diese Erkenntnis steckt voller Verunsicherungen. Langsam öffnen sich in dieser neuen Realität aber vielleicht Räume für neue Möglichkeiten. Auch wenn es mir noch schwerfällt, mir das vorzustellen. Vielleicht ist es gar nicht so erstrebenswert, einfach nur mein altes Leben wiederhaben zu wollen. Ich will zumindest die Zeit der Verunsicherung nutzen, um das zu entdecken und zu stärken, was für mich persönlich und für das Zusammenleben in der Gesellschaft Bedeutung behalten könnte.

      Mir fällt ein Satz ein, der im letzten Buch der Bibel steht und an dem ich mich wie an einer Verheißung festhalte, wenn ich meinem »alten Leben« nachtrauere: »Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu« (Offenbarung

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