ТОП просматриваемых книг сайта:
Die Kunst, sich zu verlieren. Rebecca Solnit
Читать онлайн.Название Die Kunst, sich zu verlieren
Год выпуска 0
isbn 9783751803038
Автор произведения Rebecca Solnit
Жанр Сделай Сам
Издательство Bookwire
David fotografierte schon seit Jahren im Regenwald von Hawaii und anderswo gefährdete Arten, und seine Bildersammlung und Suzies Tarotkarten schienen irgendwie zusammenzupassen. Da viele Arten verschwinden, wenn ihr Lebensraum verschwindet, fotografierte er sie vor dem Nichts eines schwarzen Hintergrunds (was manchmal bedeutete, dass er an den unmöglichsten Orten und im unerbittlichsten Klima ein schwarzes Samttuch aufhängen musste), wodurch jedes Tier, jede Pflanze, allein vor dem Dunkel, wie für eine Porträtaufnahme arrangiert schien. Und die Bilder sahen auch aus wie Karten, Karten aus dem Kartenspiel der Welt, wo jedes Tier eine Geschichte beschreibt, eine Art des Daseins in der Welt, ein Bündel von Möglichkeiten, ein Spiel, aus dem ständig Karten weggeworfen werden, eine nach der anderen. Pflanzen und Tiere sind auch eine Sprache, selbst in unserem reduzierten, domestizierten Englisch, wo Kinder wie Unkraut wachsen oder auf Rosen gebettet sind, wo der Markt aus Bullen und Bären besteht und die Politik aus Falken und Tauben. Wie Karten, so kann auch die Flora und Fauna immer wieder gelesen werden, nicht nur für sich allein, sondern im Zusammenhang, in den sich endlos verändernden Zusammenhängen einer Natur, die ihre eigenen Geschichten erzählt und die unseren färbt, eine Natur, die wir zunehmend verlieren, ohne überhaupt das Ausmaß dieses Verlusts zu erkennen.
Tatsächlich hat der Begriff des »Verlierens« zwei verschiedene Bedeutungen. Dinge zu verlieren hat damit zu tun, dass Bekanntes wegfällt; sich zu verlieren hat damit zu tun, dass Unbekanntes auftaucht. Es gibt Dinge und Menschen, die verschwinden, und dann sieht, kennt oder besitzt man sie nicht mehr – man verliert ein Armband, einen Freund, einen Schlüssel. Aber man weiß immer noch, wo man selbst ist. Alles ist vertraut, nur dass da ein Gegenstand weniger ist, ein fehlendes Element. Verliert man dagegen sich, ist die Welt größer geworden als das Wissen, das man von ihr hat. So oder so entsteht ein Verlust an Kontrolle. Man stelle sich vor, man strömt durch die Zeit und legt Handschuhe, Schirme, Schraubenschlüssel, Bücher, Freunde und Freundinnen, Wohnungen, Namen ab. So sieht die Welt aus, wenn man sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung in einen Zug setzt. Blickt man nach vorn, erfährt man ständig Momente der Ankunft, Momente der Erkenntnis, Momente der Entdeckung. Der Wind weht einem die Haare zurück, und man wird von Dingen begrüßt, die man noch nie gesehen hat. Das Materielle fällt angesichts der auf einen einstürmenden Eindrücke von einem ab. Es schält sich ab wie die Hüllen einer sich häutenden Schlange. Die Vergangenheit zu vergessen bedeutet natürlich, das Gefühl von Verlust zu verlieren, das auch eine Erinnerung an einen fehlenden Reichtum darstellt und eine Reihe von Anhaltspunkten liefert, mit deren Hilfe man sich in der Gegenwart orientieren kann; die Kunst besteht nicht darin, zu vergessen, sondern darin, loszulassen. Ist alles andere verschwunden, so kann man durchaus reich an Verlusten sein.
Schließlich machte ich mich auf die Suche nach Menon. Ich hatte gedacht, seine Frage sei Teil einer Sammlung von Aphorismen oder Fragmenten, wie beispielsweise den Fragmenten des Heraklit. Ich sah deutlich ein Buch vor mir, das gar nicht existiert. Sollte ich es je gewusst haben, so hatte ich wieder vergessen, dass Menon der Titel eines Dialogs von Platon ist. Sokrates tritt gegen den Sophisten Menon an und macht seinen Gegner, wie in allen manipulierten Boxkämpfen Platons, zunichte. Manchmal sehe ich beim Spazierengehen etwas, was aus einer gewissen Entfernung wie ein Edelstein oder eine Blume aussieht und sich ein paar Schritte später als ein Stück Abfall erweist. Doch bevor es deutlich zu erkennen ist, sieht es wunderschön aus. Genauso ist es auch mit Menons Frage, vielleicht allerdings nur in der blumigen Übersetzung, in der ich sie zuerst, aus dem Zusammenhang gerissen, gehört hatte. Sokrates antwortet auf jene Frage:
Ich begreife, was du sagen willst, Menon! Siehst du, daß es eine eristische Frage ist, die du vorbringst? Daß es nämlich einem Menschen nicht möglich sei, etwas zu erforschen, weder das, was er weiß, noch das, was er nicht weiß? Denn das, was er weiß, wird er wohl nicht erforschen wollen; er weiß es ja, und für so etwas braucht es kein Erforschen mehr. Aber auch das nicht, was er nicht weiß, denn da weiß er ja nicht, was er erforschen soll.
Das Entscheidende ist nicht, dass Elias eventuell eines Tages auftaucht. Das Entscheidende ist, dass die Türen jedes Jahr für die Dunkelheit offen gelassen werden. Die jüdische Tradition besagt, dass manche Fragen wichtiger sind als die Antworten, und das ist auch hier der Fall. Die Frage, so wie sie die Wasserfotografin gestellt hatte, war wie eine Glocke, deren Nachklänge noch lange in der Luft hängen und immer leiser werden, aber nie einfach aufzuhören scheinen. Sokrates oder Platon scheinen fest entschlossen, alles zu tun, damit sie aufhören. Hier stellt sich die Frage, die sich bei vielen Kunstwerken stellt: Hat das Kunstwerk die Bedeutung, die der Künstler oder die Künstlerin ihm geben wollte, mit anderen Worten, hat Menons Argument die Bedeutung, die er oder Platon ihm geben wollten? Oder geht sie darüber hinaus? Denn letzten Endes ist es keine Frage danach, ob man das Unbekannte kennen, ob man in ihm ankommen kann, sondern vielmehr die Frage danach, wie man es suchen, wie man den Weg dorthin zurücklegen soll.
Während des Großteils dieses Dialogs widerlegt Sokrates Menon und greift ihn mithilfe von Logik, Argumenten und sogar Mathematik an. Bei dieser Frage weicht er jedoch auf den Mystizismus aus, das heißt auf durch nichts zu untermauernde, poetische Behauptungen. Nach seiner ersten abweisenden Antwort fügt er hinzu:
Was sie aber sagen, ist Folgendes: – überlege dir, ob dir richtig scheint, was sie sagen – sie behaupten, die Seele des Menschen sei unsterblich; sie beendige zwar ihr Dasein, was man »sterben« nenne, erstehe aber immer wieder; zugrunde gehe sie nie. Deswegen müsse man sein Leben so fromm als möglich verbringen, denn von welchen Persephone die Sühne alten Leides / empfangen, deren Seelen gibt sie zur Sonne hinauf / im neunten Jahre zurück; / aus ihnen erstehen erhabene Kön’ge und Männer, / behende in Kraft und gewaltig an Weisheit; / in kommender Zeit aber nennen die Menschen sie heil’ge Heroen. Da die Seele also unsterblich ist und immer wieder ersteht, und da sie alles gesehen hat, was hier und was im Hades ist, so ist auch nichts, so gibt es auch nichts, was sie nicht kennt; es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sie sich … an das erinnern kann, was sie schon gewußt hat.
Sokrates sagt, man könne das Unbekannte kennen, weil man sich daran erinnert. Man kenne bereits das, was unbekannt zu sein scheint; man sei bereits hier gewesen, allerdings nur als jemand anderes. Das verlagert das Unbekannte lediglich vom unbekannten Anderen zum unbekannten Ich. Menon sagt: »Ein Geheimnis.« Sokrates sagt: »Im Gegenteil, ein Geheimnis.« So viel steht fest. Es kann eine Art Kompass sein.
Was folgt, sind einige meiner eigenen Landkarten.
Das Blau der Ferne
Die Welt ist an den Rändern und in den Tiefen blau. Dieses Blau ist das Licht, das verloren gegangen ist. Das Licht am blauen Ende des Spektrums pflanzt sich nicht über die ganze Distanz von der Sonne bis zu uns fort. Zwischen den Luftmolekülen verteilt es sich, im Wasser wird es gestreut. Wasser ist farblos: Flaches Wasser scheint die Farbe dessen zu haben, was sich darunter befindet, doch tiefes Wasser ist voll von diesem gestreuten Licht – je sauberer das Wasser, desto tiefer das Blau. Aus genau dem gleichen Grund ist der Himmel blau, doch das Blau am Horizont, das Blau der Erde, das sich im Himmel aufzulösen scheint, ist ein tieferes, träumerischeres, melancholischeres Blau, das Blau in den entlegensten Gegenden, dort, wo man kilometerweit