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Marx zunehmend in den Hintergrund und machten Max Weber, Karl Löwith, Hans-Georg Gadamer und anderen Platz.

      Etwas später kam Lawrence Krader aus New York ans Institut. Mit ihm, Fritz Kramer und Jacob Taubes fanden unvergessliche Seminare statt. Und am religionswissenschaftlichen Institut lehrte Klaus Heinrich die kritischen Potenziale der Psychoanalyse mit Religion, Philosophie, Kunstgeschichte und Ethnologie zu verbinden. Ich machte 1973 meinen Magister und unterrichtete danach als wissenschaftliche Assistentin bis 1978 vor allem politische und ökonomische Anthropologie. Es gab keinen Studienplan; die Themen der Lehrveranstaltungen bestimmten die Studenten zusammen mit den Dozenten. Das änderte sich erst, als gegen Ende der 1970er-Jahre die Ethnologie zum Massenfach wurde und in den Veranstaltungen plötzlich Hunderte saßen: als ob sich unsere Begeisterung durch die enttäuschte Hoffnung auf radikale Veränderungen in der eigenen Gesellschaft auf die sogenannte Dritte Welt verschoben hätte. Wie zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als die »Primitiven« in Afrika und Ozeanien mit ihrer Kunst für das herhalten mussten, was im Westen zerstört und verloren gegangen war, so suchten auch wir in Afrika nach alternativen Lebensformen. Allerdings, so viel verstanden wir immerhin, hatte der Kolonialismus das Ziel unserer Fluchtversuche bereits in Begegnungen verwandelt, die uns mit den »allerunglücklichsten Formen unseres eigenen historischen Daseins«2 konfrontierten.

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      Mitte der 1970er-Jahre fuhr ich nach Paris und lernte dort Jean Rouch kennen. Rouch, Schüler von zwei Marcels, Marcel Mauss und Marcel Griaule, hatte sich aufs ethnografische Filmemachen verlegt. Anfangs sowohl von etablierten Filmemachern wie auch Ethnologen als Außenseiter und Spinner marginalisiert, nahm er sich die Freiheit, gegen die akademische Textzentriertheit mit dem Medium Film und neuen ethnografischen Praktiken zu experimentieren. In Opposition zu kolonialen asymmetrischen Methoden entwickelte er eine »geteilte Ethnografie«, ein filmisches Unternehmen, das die Bilder und Töne, die er in Afrika vor allem von Besessenheitsritualen aufgenommen und in Paris montiert hatte, nach Afrika zurückbrachte. In der »Ciné-Trance«, einer mimetischen Praxis, teilte er die Trance und Besessenheit, die Überwältigung durch fremde Mächte, mit den Gefilmten. Gegen die szientistische Selbstermächtigung des Ethnografen, der im Feld zu handeln vermeint, rückte er die andere Seite des Handelns, nämlich das Erleiden des Handelns anderer, das Behandelt-Werden, in den Vordergrund. Wie sich in Besessenheitskulten Geister in ihren Medien verkörpern, so ließ sich Rouch von der Praxis der Geistbesessenheit der Ethnografierten ergreifen. Gerade die kinematografische Technik, die Verschaltung seines Körpers mit der Kamera, erlaubte ihm, sich fremden Geistern auszuliefern und eine reziproke Ethnografie zu praktizieren, die sich durch transkulturelle Feedbacks immer wieder selbst korrigierte.

      Rouch praktizierte auch eine »verkehrte« Ethnografie. In seinem berühmten Film Les maîtres fous von 1956 zeigt er das jährliche Ritual der Hauka, kolonialer Fremdgeister, »der Geister der Macht und des Windes, die den Wahnsinn bringen«. Im Zustand der Besessenheit verkörpern die Mitglieder des Kultes die »Geister der Kolonialgesellschaft«, des »Gouverneurs«, der »Lokomotive« oder der »Frau des Doktors«. Im Ritual entwerfen sie ihre Ethnografie der westlichen (kolonialen) Kultur. Der Film ist also zugleich doppelte und umgekehrte Ethnografie: gefilmte Ethnografie sowie die Ethnografie der Gefilmten, die uns den Spiegel vorhalten und uns zeigen, wie sie uns sehen.

      Auch in seinem späteren Film Petit à Petit aus dem Jahr 1969 behandelte Rouch das Thema des umgekehrten Blicks und die Gewaltsamkeit ethnografischer Methoden. Er zeigt einen afrikanischen Ethnografen in Paris, der dort eine Feldforschung über die »Pariser Wilden« und ihre Probleme beim Wohnen in Hochhäusern durchführt. Durch die Vertauschung von Subjekt- und Objektpositionen finden die ethnografischen Methoden bei denen Anwendung, die sie entwickelt haben. Durch die Umkehrung der Perspektive, die die Europäer zum Objekt der Feldforschung macht, kann der westliche Ethnograf erkennen, was es heißt, ethnografische Methoden erleiden zu müssen.

      Rouchs ethnografische Filmarbeit beeindruckte mich so stark, dass ich 1977 mit Ulrich Gregor, damals Leiter des Berliner Kinos Arsenal und der Freunde der deutschen Kinemathek, eine erste Retrospektive seiner Filme in Berlin organisierte und 1980 eine Ausbildung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie begann, die ich 1984 abschloss.

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      Am Berliner Institut für Ethnologie galt die ethnografische Feldforschung als absolutes Muss. Unsere großen Vorbilder waren Bronisław Malinowski (trotz oder gerade wegen des Skandals um die Veröffentlichung seines Tagebuchs 1967), Edward E. Evans-Pritchard, Geoffrey Lienhardt und Jean Rouch. Die Feldforschung als teilnehmende Beobachtung hatte den Status einer doppelten Initiation, nicht nur in eine fremde Gesellschaft, sondern auch in die Gemeinschaft der Berliner Ethnologen. Sie war der zentrale Passage-Ritus mit seinen drei Phasen, wie sie Arnold van Gennep beschrieben hat: das Verlassen der eigenen Welt, der Aufenthalt in der Fremde als liminale Phase und die Rückkehr.3

      Da ich bereits Mann und Kind hatte, waren es vor allem praktische Gesichtspunkte, die zur Auswahl der Tugenberge im Nordwesten Kenias als Forschungsterrain führten. Die Tugenberge, eine Gebirgskette, die sich bis in 2000 Meter Höhe in Nord-Süd-Richtung erstreckt, gehören zum Großen Afrikanischen Grabenbruch, dem Rift-Valley. Dort oben gab es keine Malaria, aber für alle Fälle eine Krankenstation in nicht zu weiter Ferne.

      Dieses karge und nicht besonders fruchtbare Gebirge hatte schon im 19. Jahrhundert vielen Menschen als Rückzugs- und Zufluchtsort gedient. Die Bewohner nannten es »Land der Steine« und erzählten, dass ihr Gott, als er die Berge erschuf, schon so müde gewesen sei, dass er nur noch Steine auf die Erde habe werfen können. Das Land war so arm, dass es relativ unbehelligt blieb, als Kenia Siedlungskolonie wurde und aus Großbritannien und Südafrika Siedler ins Land strömten, um sich die fruchtbaren Regionen anzueignen. Während in der Zentralprovinz die Menschen brutal von ihrem Land vertrieben, enteignet und in Reservate gezwungen wurden, konnten die Bewohner der nördlichen Tugenberge ihr karges Land behalten.

      In den 1970er-Jahren umfasste die Bevölkerung etwa 120 000 Menschen, die weit verstreut in einzelnen Gehöften in den Bergen lebten. Sie bauten Mais und Hirse an und hielten Ziegen, Schafe und Rinder. Von allen Tieren schätzten sie vor allem das Rindvieh. Sie setzten – wie die berühmten Nuer im Sudan – eine »Rinderästhetik« ins Werk, mit der sie die Schönheit ihrer Bullen und Kühe im Tanz und in poetischen Lobgesängen zum Ausdruck brachten. Hätten die männlichen Bewohner der Berge mich eine »Kuh« genannt, wäre das ein großes Kompliment gewesen, beinahe eine Liebeserklärung. Leider raubten ihnen die Pokot, ihre Nachbarn im Norden, regelmäßig ihre wertvollen, hochgeschätzten Rinder und nannten sie verächtlich »Ziegenleute«.

      Alle paar Jahre suchte außerdem eine verheerende Dürre die Region heim. Wenn die Situation unerträglich wurde und »Menschen und Tiere vor Hunger und Durst umfielen«, verließen Männer und Frauen mit ihren Kindern die Gehöfte und zogen in die Wildnis, um dort zu jagen und zu sammeln. Kam der Regen, kehrten sie in ihre Häuser zurück.

      In vorkolonialer Zeit waren die Bewohner akephal, hatten also keinen Häuptling, stattdessen eine gerontokratische Organisation in acht Altersklassen, deren Namen nach etwa 100 Jahren, wenn ein Kreislauf vollendet war, wiederkehrten. Alte Männer und Frauen herrschten über junge Männer und Frauen. Solange sie Kinder bekamen, waren Frauen von der Politik ausgeschlossen. Nach der Menopause erlangten sie jedoch den Status von rituellen Ältesten und waren den alten Männern gleichgestellt.

      Während der Kolonialzeit verloren männliche und weibliche Älteste weitgehend ihre Macht an mehr oder weniger despotische Häuptlinge, die zunächst von der britischen Kolonialverwaltung und später, ab der 1963 erlangten Unabhängigkeit, vom postkolonialen Staat eingesetzt wurden. Meist lehnte die lokale Bevölkerung die Häuptlinge ab. Diese trieben Steuern ein, sprachen Recht und versuchten die Belange des Staates durchzusetzen. Außerdem verfügten sie über finanzielle Ressourcen und bestimmten, wer in Hungerszeiten Maismehl aus den Hilfsprogrammen erhielt.

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      1978 besuchte ich die Tugenberge zum ersten Mal. Fünfzehn Jahre zuvor hatte Kenia die Unabhängigkeit erlangt. Jomo Kenyatta, ein Ethnologe, der bei Malinowski in London studiert und promoviert hatte, wurde Präsident, und sein Vize Daniel

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