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und nach den für die verstädterte Gesellschaft spezifischen Modalitäten größte Bedeutsamkeit gewinnt«. (Ebd., S. 11) Lefebvre folgert daraus, dass nicht mehr das »Industrielle« und seine auf Kapital und Arbeit zielenden Disziplinen die Bedingungen der Erkenntnis bilden, sondern das »Städtische« zum strategischen Ort und strategischen Objekt der gesellschaftlichen Entwicklung wird (ebd., S. 51). Die Urbanisierung durchdringe nicht nur alle Bereiche des menschlichen Lebens (Ökonomie, Politik, Soziales, Kultur), das Städtische müsse vielmehr als etwas definiert werden, »das die gesamte Erde erfasst hat« (Ebd., S. 176). Diese These war zu Beginn der siebziger Jahre alles andere als selbstverständlich.

      Die epochale Verschiebung vom Industriellen zum Urbanen erfordert nach Lefebvre einen grundsätzlichen Terrainwechsel in der Theorie wie in der Praxis, denn der Vorgang der révolution urbaine ist für ihn vergleichbar mit den historischen Umwälzungen der industriellen Revolution. Doch mit welchen erkenntnistheoretischen Mitteln lässt sich dieser Transformationsprozess erfassen? Lefebvre stellt die vollständige Urbanisierung als eine Hypothese vor, die sowohl eine Definition als auch eine »Möglichkeit« einschließt: »Das Urbane (Abkürzung für‚verstädterte Gesellschaft‘) wird nicht als eine erreichte Wirklichkeit definiert […], sondern als Ausblick, als aufklärende Virtualität. Sie ist das Mögliche, definiert durch eine Richtung am Ende eines Weges, der zu ihm hinführt.« (Ebd., S. 23) Lefebvre projiziert also die bestehenden Tendenzen in eine mögliche Zukunft, um von dort aus die Gegenwart zu erhellen. Gleichzeitig fügt er dieser Perspektive eine gegenläufige Reflexionsbewegung hinzu, nämlich »die Projektion der Vergangenheit auf die Gegenwart, da er einen noch nicht gegebenen Zustand, die Verstädterung, am Beispiel der Stadt, einem nicht mehr vorhandenen Zustand, untersuchen will.« (Treusch-Dieter 1975, S. 112)

      In einem ersten Schritt versucht Lefebvre die Geschichte der (europäischen) Stadt entlang einer »Raum-Zeit-Achse« zu rekonstruieren: An ihrem Anfang steht die vollständige Herrschaft des Landes, an ihrem Ende öffnet sich eine »kritische Zone« der umfassenden Urbanisierung. In diesem »Blindfeld« der Erkenntnis »verflüchtigt sich das Gelände unter den Füßen und entzieht sich dem Blick. Der Boden ist vermint. Die alten Begriffe entsprechen nicht mehr, neue Begriffe bilden sich heraus.« (Lefebvre 1972a, S. 176) Bei seiner historischen Analyse orientiert sich der Philosoph an der recht grobschlächtigen marxistischen Periodisierung von antiker Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus. Jede Formation bringe ihren eigenen Stadttypus hervor: die politische Stadt, die Handelsstadt und die industrielle Stadt. Allerdings insistiert Lefebvre darauf, dass in der Stadt – jenseits der unterschiedlichen Produktionsweisen – ein »relativ kontinuierlicher Kumulationsprozess « stattgefunden hat: »Wissen, Techniken, Dinge, Menschen, Reichtümer, Geld und schließlich Kapital wurden angehäuft. « (Ebd., S. 30)

      Die politische Stadt, »ganz und gar Ordnung, Erlass, Macht« (Ebd., S. 14), beutet das umliegende Land aus und verkörpert die Arbeitsteilung zwischen materieller und intellektueller Tätigkeit. Im Laufe des Mittelalters bringt die Handelsstadt etwas völlig Neues hervor: auf »wirtschaftlichem Gebiet die Industrie – auf sozialem Gebiet das bewegliche Eigentum […] und schließlich auf politischem Gebiet den Staat.« (Lefebvre 1975 [1972], S. 32) Dabei macht Lefebvre drei große Konfliktlinien aus: Stadt gegen Land, Bürgertum gegen Feudalherrschaft, mobiles (privates) Eigentum gegen fixes Gemeinschafts- und Grundeigentum.

      In dem Maße, wie die Bedeutung der landwirtschaftlichen Produktion gegenüber der handwerklichen und industriellen Produktion abnimmt, gewinnt die Stadt die Oberhand über das Land, sowohl in ökonomischer und politischer wie auch in sozialer Hinsicht. Mit dem Aufschwung der Industrie und der Ausdehnung des warenförmig organisierten Marktes bemächtigt sich schließlich der Kapitalismus der »historischen Stadt« und produziert einen neuen, abstrakten Raum. Lefebvres Rekonstruktionsgeschichte bricht mit der industriellen Stadt, der »Anti-Stadt«, wie er sie auch nennt, ab. Es handle sich dabei um »eine Agglomeration von kaum städtischem Charakter, ein Konglomerat, ein Ineinanderübergehen von Städten und Ortschaften« (Lefebvre 1972a, S. 20).

      Historisch betrachtet, also von der Antike bis zur Neuzeit, war die »Stadt« mit dem »Land« eng verwoben, es bestand eine konflikthafte, aber gleichwohl funktionierende Symbiose. Doch mit der Industrialisierung löst sich diese Verbindung schrittweise auf. Nach Lefebvre breitet sich stattdessen im Laufe des 20. Jahrhunderts ein »urbanes Gewebe« (tissu urbain) über die Landschaft aus. Sowohl die Stadt wie auch das Land werden Opfer der kapitalistischen Akkumulation. Bildhaft gesprochen vollzieht sich der Urbanisierungsprozess nach dem Prinzip von »Explosion« und »Implosion« (ebd., S. 20). Die historische Stadt explodiert; ihre Trümmer werden weit hinausgeschleudert, und neue Randgebiete und Satellitenstädte entstehen. »Implosion« steht für die gleichzeitig stattfindende Aufwertung der historischen Stadtzentren, die von den noch bestehenden »Elendsquartieren« gereinigt werden. Der frühere Stadt-Land-Gegensatz transformiert sich zu einem neuen Gegensatz, demjenigen zwischen Zentrum und Peripherie.

      Nachdem Lefebvre die »Stadt« als eine historische Konfiguration analysiert hat, geht er zu einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive über und unterscheidet drei geschichtlich-räumliche »Kontinente«: das Rurale, das Industrielle und das Urbane. Diese Kraft- und Konfliktfelder, die spezifische Denk-, Handlungs- und Lebensweisen repräsentieren, sind nicht nur als diachrone Abfolge zu verstehen, sondern auch als ein räumliches Nebeneinander unterschiedlicher Sektoren, bei dem Überlagerungen und Ungleichzeitigkeiten möglich sind. Lefebvre verweist hier etwa auf die Länder des Trikonts, die alle drei Bereiche gleichzeitig durchlaufen (ebd., S. 38).

      Das rurale Feld ist vom bäuerlichen Leben und der Landwirtschaft bestimmt. Es ist »die Zeit der begrenzten Produktion – der ‚Natur‘ unterworfen und unterbrochen von Katastrophen und Hungersnöten; Knappheit regiert.« (ebd., S. 38) Das industrielle Feld wird vom Ökonomischen und einem »universellen Rationalismus« strukturiert. Die Industrien unterwerfen sich die Natur, und die für die Warenproduktion erforderliche Arbeitsteilung kommt in allen gesellschaftlichen Bereichen verstärkt zum Einsatz (ebd., S. 40). Für Lefebvre bilden Industrialisierung und Verstädterung eine dialektische Einheit: Die Industrialisierung der Gesellschaft impliziert immer auch eine Urbanisierung. Ihre Dynamik führt zu einer Zusammenballung von Arbeitskräften und Produktionsmitteln, welche wiederum den Ausbau städtischer Infrastrukturen vorantreibt. Schließlich das urbane Feld: Hier handelt es sich um ein noch weitgehend unbekanntes Raum-Zeit-Gebilde. Allerdings glaubt Lefebvre Symptome für den Übergang zur »urbanen Epoche« ausmachen zu können: »Ganze Kontinente gehen von der einstigen Form der revolutionären Aktion zum Stadtguerillakrieg über, stecken sich Ziele über Leben und Organisation eines städtischen Daseins […]. Die Zeit der Revolution der Städte hebt an.« (Ebd., S. 50) Eine Tendenz, die sich allerdings als sehr kurzlebig erweisen sollte.

      Das Primat des Wohnens

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