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in ihren intimen Beziehungen zu haben, und der Druck wird durch die Betonung des Sexuellen in unserer Gesellschaft unterstützt (Hall 2004). Hinzu kommt, dass bis heute noch viele Frauen sich damit schwertun, dem Partner Anleitungen für ihre Befriedigung zu geben oder zu signalisieren, dass sie bisher keinen Orgasmus hatten (von Sydow u. Seiferth 2015).

      Dies mag auf den ersten Blick vielleicht etwas übertrieben wirken. Aber die Forschung zeigt, dass heterosexuelle Frauen im wahrsten Sinne des Wortes immer noch zu kurz kommen. Während die Kriterien für sexuelle Dysfunktionen zum größten Teil immer noch auf den Geschlechtsverkehr zielen, haben mindestens zwei Generationen von Sexualforschern belegt, dass ungefähr drei Viertel der Frauen durch Geschlechtsverkehr nicht befriedigt werden, sie brauchen klitorale Stimulation und ein sogenanntes Vorspiel (Ogden 2008). Seit dem Kinsey-Report weiß man, dass es beim Koitus große Unterschiede in puncto Häufigkeit des Orgasmus von Frauen (27 %) und Männern (80 %) gibt, wozu sogar Kinsey schon äußerte, dass dies »von erheblicher sozialer Bedeutung ist« (Kinsey 1953, S. 398). Diese »Orgasmuskluft« ist, obwohl sie seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt ist, leider weiterhin sehr prominent: Moderne Studien zeigen immer wieder, dass nur ein Viertel der heterosexuellen Frauen einen Orgasmus beim Geschlechtsverkehr hat, im Gegensatz zu ca. 90–95 % der Männer. Gleichzeitig erleben ungefähr 50 % der Frauen gelegentlich Schmerzen beim koitalen Sex und 10 % jedes Mal (van Lunsen e. Laan 2017). Wenn sie zudem nicht mit der Freude am Orgasmus belohnt werden, lernen sie also nicht, dass Sex etwas Schönes ist. Wie sähe es mit der Lust der Männer aus, wenn die Zahlen umgekehrt wären, d. h., wenn die meisten Frauen beim Geschlechtsverkehr Orgasmen hätten, aber drei Viertel der Männer dabei frustriert und unerfüllt blieben? Vielleicht lässt sich so besser verstehen, wie der Mythos, dass Frauen im Vergleich zu Männern weniger Lust haben, entstehen konnte.

      Dementgegen wird die Sexualität von Männern zu einer unaufhaltsamen und unwillkürlichen Kraft reduziert, die vom Kontext unberührt bleibt. Die Daten unterstützen diese Unterscheidung nicht, genauso wenig wie die Erfahrungsberichte aus der klinischen Welt. Außerdem ist die Etablierung einer eigenen Triebtheorie für Männer eine sozial gefährliche. Auch der männliche Sexualtrieb, obwohl er stärker zu sein scheint, wird von sozialen Kräften, Beziehungen und dem Selbstwertgefühl beeinflusst, und der vermeintlich spontane Wunsch der Männer ist keine rein biologische Kraft, die nach einem Ventil sucht. Die Sexualität von Frauen scheint zwar beziehungsorientierter zu sein, verschiedene Untersuchungen stellen diese Annahme jedoch wieder infrage (Meana 2010). Die Botschaft, mit der sehr viele weiter aufwachsen, ist »Richtige Männer landen Treffer« und »Brave Mädchen tun es nicht«, eine Dynamik, die die Leidenschaft bei unzähligen Paaren zerstört (Ogden 2008). Es geht hier nicht darum zu diskutieren, inwieweit die Sexualität von Männern und Frauen gleich ist, es geht darum, die Ungleichheiten der sozialen Kontexte im Auge zu behalten, weil diese einen wesentlichen Teil des Problems darstellen.

      Trotzdem liegt bis heute den Abbildungen und Texten im Biologieunterricht eine Vorstellung der Komplementarität von Mann und Frau zugrunde, die weder dem aktuellen Forschungsstand entspricht noch für das sexuelle Erleben der Frau günstig ist (Beck 2016). Es geht um die Vorstellung, dass Penis und Vagina gleichgestellt sind, obwohl es die Klitoris ist, die das eigentliche sexuelle Organ der Frau darstellt. Sie ist übrigens viel größer als der äußerlich sichtbare Teil.

       1.1.5Die »Neuentdeckung« der Klitoris

      Im Jahr 1559 behauptete der italienische Anatomieprofessor Colombo, die Klitoris in ihrer ganzen Fülle entdeckt zu haben. Aber der Anatom Falloppio bestand darauf, dass er die Klitoris zuerst erblickt hatte. Beide erhielten im 17. Jahrhundert Kritik vom dänischen Anatomen Bartholin (Junior), der sagte, die Klitoris in ihrer ganzen Ausdehnung sei bereits seit dem zweiten Jahrhundert bekannt. Im Jahr 1844 wurde sie dann vom deutschen Anatomen Georg Ludwig Kobelt wiederentdeckt (Laqueur 1990). Trotz dieses Wissens wurde der ganze Umfang der Klitoris bis vor Kurzem in Anatomiebüchern immer wieder ignoriert. Und so war es eine »Überraschung«, als die australische Anatomin Helen O’Connell 1998 die gesamte Klitoris mit modernen Techniken »entdeckte«.

      Wenn die Klitoris beim Geschlechtsverkehr mit einbezogen wird, so verdoppelt sich der Prozentsatz von Orgasmen bei Frauen (van Lunsen e. Laan 2017). Das komplementäre Bild von Penis und Vagina ist veraltet und gehört in die Zeiten, in denen man Sex ausschließlich für reproduktive Zwecke haben durfte. Aber der häufigste Sex, der heute auf der Welt geschieht, findet nicht zur Fortpflanzung statt, sondern im Gegenteil: Viele versuchen eine Schwangerschaft gerade zu vermeiden. Außerdem lässt sich eine Befruchtung heutzutage im Reagenzglas durchführen, dafür braucht man keinen Koitus mehr.

       1.1.6Sexualität jenseits alter Reaktionen

      Unsere Klienten sehen Sexualität oft noch im Schatten alter Ideen, wie Sexualität zu sein habe. Aber sie begrüßen die Möglichkeit, sich sexuell kompetenter zu fühlen, auch wenn sie etwas Zeit brauchen, ihre eigenen Reaktionen oder die des Partners nicht zu bewerten und keinen Druck zu machen, um eine »richtige« sexuelle Reaktion zu erschaffen (Iasenza 2010). Es ist deshalb erfreulich, dass mehr und mehr Forscher die Meinung teilen, dass es mehr Übereinstimmungen als Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Das ist eine gute Nachricht für uns alle: Nur wenn wir die Rigidität begrenzter Geschlechtsauffassungen verlassen können, wird es möglich, vor allem Langzeitbeziehungen von den limitierenden sexuellen Szenarien zu befreien, die für so viele charakteristisch sind und zu sexueller Langeweile führen (Schnarch 1997).

      Gleichzeitig sind es aber die kleinen Unterschiede, die die meisten interessieren, die Schlagzeilen machen und Umsatz generieren. Letztendlich ist es die Variation, die die einzige wirklich universelle Eigenschaft von Sexualität darstellt (Nagoski 2015). Menschen können sich selbst umso besser verstehen, je mehr sie ihre eigene Sexualität kennenlernen. Und zwar nicht, um sich in Kategorien einzuordnen, sondern um die persönliche Eigenart zu begrüßen. Die Sexualität eines Individuums kann nie komplett erfasst werden in einem einheitlichen Modell.

      Es hilft, sich die Sexualität als ein Mosaik vorzustellen, bei dem nicht zwei Steinchen gleich sind. Es sind genau diese vielen individuellen Variationen und Unterschiede zwischen Menschen, die die Arbeit mit dem Thema Sex für manche Psychotherapeuten unüberschaubar machen. Und für andere gerade sehr spannend.

       1.2Sexualtherapie in einer vielfältigen Welt

      Wenn es um Sex und Sexualität geht, begibt man sich in eine Welt von Unklarheiten und mehrfachen Bedeutungen. Dazu kommt, dass Sex und Geschlechtsidentität heutzutage kontrovers beladene Begriffe sind, was die Arbeit mit dem Thema für manche zu einer kaum zu bewältigenden Aufgabe machen kann (Iasenza 2010). Deswegen ist es wichtig, Therapeuten zusätzliche Fertigkeiten und Kenntnisse anzubieten, die sie in einer systemischen Psychotherapieausbildung nicht unbedingt erhalten haben. Leider ist es aber so, dass in den meisten Literaturlisten von Paartherapiekursen keine Referenzen zur Unterstützung der Behandlung sexueller Probleme aufgeführt sind. Dies kann den Eindruck erwecken, dass die Sexualtherapie ganz von der Paar- und Familientherapie abgetrennt wird. Das Thema Sexualität fehlt sogar vollkommen in der üblichen systemischen Literatur (Markovich 2007) und spiegelbildlich gibt es in der klassischen Sexualtherapie keinen Platz für systemisches Denken. In den klassischen Ausbildungen zur Sexualtherapie lernt man viel über funktionellen sexuellen Kontakt, aber wenig darüber, wie man sexuelle Intimität fördert (Kleinplatz 2012a). Darum funktioniert die klassische Sexualtherapie am besten bei Paaren, die außer ihrer Sexualität sonst keine Probleme miteinander haben (von Sydow u. Seiferth 2015). In allen anderen Fällen machen die Klienten die Hausaufgaben, die man in der klassischen Sexualtherapie mitgibt, einfach nicht oder es kommt zum Therapieabbruch (Ogden 2008).

      Erst in jüngerer Zeit haben Sexual- und Paartherapeuten ernsthaft versucht, diese beiden Bereiche zu integrieren und zu erforschen, wie Sexualität und Intimität als anspruchsvolle Systeme funktionieren und interagieren (Schnarch 1997). Deswegen kann man auch argumentieren, dass alle neueren paartherapeutischen

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