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»Mami! Mami!«

      »Du darfst gleich wieder zu deiner Mami«, versuchte die Schwester das Kind zu beruhigen. »Siehst du nicht, dass sie verletzt ist? Die Wunde muss versorgt werden.«

      Die Krankenschwester unterlag dem gleichen Irrtum wie vorhin der Polizist. Sie hielt Betti für Evis Mutter.

      »So, da haben sie noch einmal Glück gehabt«, sagte der Arzt, nachdem er Bettis Wunde gesäubert und einen Verband angelegt hatte. »Andere sind nicht so gut davongekommen. Sie können jetzt mit Ihrem Kind nach Hause gehen und morgen …«

      »Das ist nicht mein Kind«, unterbrach Betti ihn. »Ich wollte schon die ganze Zeit … Ihre Mutter war im gleichen Waggon wie ich. Im vordersten. Ich konnte sie nicht finden.«

      Der Arzt fasste Evi genauer ins Auge. »Ihre Mutter war im vordersten Waggon?«, fragte er langsam.

      »Ja«, erwiderte Betti beklommen.

      »Dann muss ich Sie bitten, mitzukommen«, sagte der Arzt. »Nein, das Kind lassen Sie besser einstweilen hier, in der Obhut der Krankenschwester.«

      Benommen folgte Betti dem Arzt, der sie zur Eile antrieb. »Schnell, sie sind möglicherweise schon fortgefahren.«

      Aber das Rettungsauto, in das man Evis Mutter gelegt hatte, stand noch am Bahnhofsgelände.

      »Will man Evis Mutter ins Krankenhaus bringen?«, stammelte Betti.

      Der Arzt schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob es sich wirklich um die Mutter des Kindes handelt«, sagte er, »aber es wurde nur eine junge Frau im vordersten Waggon gefunden.«

      »Und? Was …, was ist mit ihr geschehen?«

      »Sie war tot«, erklärte der Arzt einfach. »Man konnte ihr nicht mehr helfen. Ich wollte Sie bitten, sie zu identifizieren.«

      Es blieb Betti nichts anderes übrig, als dieser Bitte nachzukommen. Der Arzt hob das Tuch, das die Tote bedeckte, hoch, und Betti blickte in das stille Antlitz von Evis Mutter, das seltsam friedlich und scheinbar unverletzt wirkte.

      »Ja«, flüsterte Betti mit heiserer Stimme.

      »Wissen Sie den Namen der Toten?«

      »Nein. Ich habe erst vorhin im Zug ihre Bekanntschaft gemacht.« Es kam Betti völlig unwirklich vor, dass nur so kurze Zeit vergangen war, seit …

      »Dann müssen wir das Kind einvernehmen«, unterbrach ein Polizist Bettis Gedankengänge.

      »O nein«, wehrte Betti erschrocken ab. »Evi hatte einen Schock davongetragen. Ich lasse nicht zu, dass man sie quält.«

      »Niemand wird das Kind quälen«, beschwichtigte der Polizist sie. »Wir werden sie einfach nach ihrem Namen fragen.«

      Leider stellte sich heraus, dass Evi über ihren Zunamen keine Auskunft geben konnte. Entweder wusste sie ihn nicht, oder der Schock war so groß gewesen, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Sie weinte ununterbrochen vor sich hin und verlangte immer wieder nach ihrer Mutter.

      »Wir müssen das Kind der Fürsorge übergeben«, meinte die Krankenschwester. »Wer weiß, wie lange es dauert, bis sich die Angehörigen melden.«

      »O bitte, ich möchte Evi einstweilen bei mir behalten und sie mit nach Hause nehmen«, bat Betti.

      Als Evi Bettis Stimme vernahm, beruhigte sie sich ein wenig und streckte verlangend die Arme nach ihr aus.

      Diese Geste bewirkte, dass der Polizeiwachtmeister auf Bettis Verlangen einging.

      »Warum nicht?«, meinte er schulterzuckend. »Das Kind hat Sie offensichtlich gern und vertraut Ihnen.«

      Betti gab ihre Personalien und ihren Wohnort an. Sie wurde ermahnt, am nächsten Tag das Krankenhaus aufzusuchen, damit ihre Verletzung behandelt wurde, dann durfte sie zusammen mit Evi den Bahnhof verlassen.

      Plötzlich hörte Betti eine vertraute Stimme, die ihr zurief: »Betti! Gott sei Dank, Sie leben! Ich hatte so fürchterliche Angst um Sie!«

      »Frau von Lehn!«, stammelte Betti. »Wieso sind Sie hier?«

      »Ich wollte Sie vom Zug abholen. Sie hatten mir doch geschrieben, welchen Zug Sie benutzen würden. Da dachte ich, ich komme mit dem Auto her, damit Sie nicht den Bus nehmen müssen.«

      »Oh, Frau von Lehn …« Betti hatte ihrer Dienstgeberin so viel zu sagen, dass sie keinen Anfang fand.

      »Es war schrecklich«, sagte Andrea an ihrer Seite. »Ich hatte mich verspätet. Als ich zum Bahnhof kam, hörte ich die Sirenen von Polizei und Feuerwehr. Die Straße war abgesperrt, und dann wollte man mich nicht zum Bahnhof lassen. Irgendwie bin ich aber doch durchgeschlüpft, und dann habe ich gemerkt, was geschehen ist. Aber Sie konnte ich nirgends finden. Ich …, ich befürchtete schon das Schlimmste. Eben wollte ich mich erkundigen, ob man Sie ins Krankenhaus gebracht hat.«

      »Nein, ich bin so ziemlich unverletzt«, erwiderte Betti. »Aber das Kind …«

      Es war Andrea natürlich nicht entgangen, dass Betti ein kleines Mädchen in den Armen hielt, das sich fest an sie drückte.

      »Ist das arme Kind verletzt?«, fragte Andrea mitleidig. »Wir müssen es zu einem Arzt bringen, damit er …«

      »O nein«, unterbrach Betti ihre Herrin. »Evi ist nicht verletzt. Aber ihre Mutter …«

      Evi hörte das Wort Mutter, sah auf und begann von Neuem zu klagen: »Mami, ich will zu meiner Mami.«

      »Still, Evi«, flüsterte Betti ihr zu. »Du kannst jetzt nicht zu deiner Mami. Weine nicht, ich bin ja bei dir.«

      Andrea warf Betti einen fragenden Blick zu. Betti überkam es siedend heiß, dass sie ja noch gar nicht wusste, ob Frau von Lehn ihr erlauben würde, Evi mitzunehmen. Es war schließlich nicht ihr Haus, in das sie Evi bringen wollte.

      »Ich habe …, ich wollte …«, begann Betti zu stammeln.

      »Kommen Sie, wir gehen zu meinem Wagen«, sagte Andrea. »Es ist nicht gut für das Kind, wenn wir noch länger hier stehen bleiben.«

      Betti war Andrea für diese Bemerkung dankbar, denn soeben trug man auf einer Tragbahre eine alte Frau vorbei, deren Gesicht mit blutenden Schrammen bedeckt war.

      Andrea wandte sich ab und deutete auf Bettis Köfferchen, das dieser zuvor von einem Polizisten übergeben worden war und das sie achtlos auf eine Bank gestellt hatte.

      »Das ist doch Ihr Koffer, nicht wahr?«, fragte Andrea.

      »Ja, ja«, bestätigte Betti.

      Andrea griff mit der einen Hand nach dem Koffer, mit der anderen nach Bettis Arm.

      Sie führte das Mädchen zu ihrem Wagen, der in einer Seitenstraße parkte.

      »So, da sind wir«, stellte Andrea aufatmend fest. »Jetzt können wir uns in Ruhe darüber unterhalten, was wir mit dem Kind anfangen. Ich nehme an, Sie haben die Erlaubnis, es mitzunehmen. Haben Sie gesagt, dass Sie es nach Sophienlust bringen werden?«

      Das war ein naheliegender Gedanke. Sophienlust war ein Kinderheim, dessen Eigentümer Andrea’s Stiefsohn Dominik war. Bis zur Großjährigkeit dieses Bruders wurde es von dessen Mutter, Denise von Schoenecker, verwaltet.

      »Mutti würde sich freuen, einen neuen Schützling zu bekommen«, fuhr Andrea fort. »Noch dazu, wenn es sich um ein so niedliches kleines Mädchen handelt.«

      Betti machte ein trauriges Gesicht. »Ich habe gedacht …, gehofft …, dem Polizisten habe ich erklärt, dass ich Evi einstweilen bei mir behalten werde. Ich habe unsere …, ihre Adresse angegeben«, meinte sie zögernd.

      »O natürlich, Sie wollen die Kleine nicht im Stich lassen«, erwiderte Andrea verständnisvoll.

      »Dann darf ich …?«

      »Freilich. Das kleine Mädchen soll bei uns wohnen, bis seine … Davon reden wir später«, unterbrach sich Andrea.

      Betti

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