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Auf einem Blatt Papier fanden sich dazu einige Ziffern, bei denen die Namen einiger seiner Clubfreunde standen, woraus gefolgert wurde, daß er vor seinem Tode damit beschäftigt war, seine Verluste oder Gewinne beim Kartenspielen zusammenzustellen.

      Eine eingehende Untersuchung der Umstände führte lediglich zu einer weiteren Komplizierung des Falles. Vor allem war kein Grund dafür zu finden, warum der junge Mann die Tür von innen verschlossen haben sollte. Man erwog die Möglichkeit, sein Mörder habe dies getan und sei hinterher durch das Fenster entwichen. Dort ging es jedoch mindestens zwanzig Fuß tief hinunter, und unten befand sich ein Krokusbeet in voller Blüte. Weder die Blumen noch die Erde wiesen irgendein Zeichen einer Beeinträchtigung auf, und auf dem schmalen Rasenstreifen, der das Haus von der Straße trennte, waren ebenfalls keine Spuren zu finden. Der junge Mann hatte daher offenbar selbst die Tür verschlossen. Aber wie ereilte ihn der Tod? Niemand konnte zu dem Fenster hinaufgeklettert sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Angenommen, jemand hatte durch das Fenster geschossen, so mußte es wahrhaftig ein bemerkenswerter Schütze sein, der mit einem Revolver eine solche tödliche Wunde beizubringen vermochte. Andererseits ist Park Lane eine belebte Durchgangsstraße; hundert Yards vom Haus entfernt befindet sich ein Droschkenstand. Niemand hatte einen Schuß gehört. Und doch gab es den Toten und die Revolverkugel, die sich nach Art von Dumdumgeschossen pilzförmig verformt und so eine Wunde verursacht hatte, die zum sofortigen Tod geführt haben mußte. Soweit die Umstände des Rätsels von der Park Lane, die sich des weiteren durch das völlige Fehlen eines Motivs verkomplizierten, da der junge Adair, wie ich bereits sagte, mutmaßlich keinerlei Feinde hatte und ferner nicht versucht worden war, das Geld oder die Wertsachen aus dem Zimmer zu entfernen.

      Den ganzen Tag lang wälzte ich diese Tatsachen in meinem Kopf herum und mühte mich ab, auf eine Theorie zu kommen, die sie alle in Einklang brächte, und jenen Weg des geringsten Widerstandes zu finden, den mein armer Freund für den Ausgangspunkt einer jeden Untersuchung erklärt hatte; Ich gestehe, ich kam nur wenig voran. Am Abend bummelte ich durch den Park und fand mich schließlich gegen sechs Uhr am Oxford Street Ende der Park Lane. Eine Gruppe von Müßiggängern, die auf dem Bürgersteig standen und alle zu einem bestimmten Fenster hinaufstarrten, führte mich zu dem Haus, das ich mir hatte ansehen wollen. Ein großer dünner Mann mit Sonnenbrille, der mir sehr verdächtig nach einem Polizisten in Zivil aussah, erläuterte eine selbstgebastelte Theorie, während die anderen ihn umdrängten, um seinen Worten zu lauschen. Ich näherte mich ihm, so gut ich konnte, doch schienen mir seine Bemerkungen absurd, und ich zog mich mit einigem Widerwillen zurück. Dabei stieß ich gegen einen ältlichen verwachsenen Mann, der hinter mir gestanden hatte, und mehrere Bücher, die er getragen, fielen zu Boden. Ich erinnere mich, daß mir, als ich sie aufhob, ein Titel in die Augen sprang: Der Baumkultus,2 und daß mir der Gedanke kam, dieser Bursche müsse ein armer Büchernarr sein, der entweder handelsmäßig oder als Steckenpferd obskure Bücher sammelte. Ich entschuldigte mich geflissentlich für den Unfall, doch waren diese Bücher, die ich so unglücklich mißhandelt hatte, in den Augen ihres Besitzers offenbar sehr kostbare Gegenstände. Mit verächtlichem Knurren wandte er sich um, und ich sah seinen krummen Rücken und seinen weißen Backenbart im Gedränge verschwinden.

      Meine Beobachtungen am Hause Park Lane No. 427 brachten mich bei der Klärung des Problems, für das ich mich interessierte, nicht viel weiter. Das Haus war von der Straße durch eine niedrige Mauer plus Zaun getrennt, das Ganze nicht höher als fünf Fuß, so daß jedermann ohne weiteres in den Garten gelangen konnte. Aber das Fenster war vollkommen unerreichbar, da es weder ein Wasserrohr noch sonst irgend etwas gab, was auch einem behenden Manne zum Hinaufklettern hätte dienen können. Verwirrter als je zuvor lenkte ich meine Schritte nach Kensington zurück. Ich war noch keine fünf Minuten in meinem Arbeitszimmer, als das Dienstmädchen eintrat und eine Person meldete, die mich zu sehen verlangte. Zu meinem Erstaunen war dies niemand anders als mein sonderbarer alter Büchersammler: Sein scharfes verhutzeltes Gesicht schaute aus einem Rahmen weißen Haares heraus, und unter seinen rechten Arm geklemmt trug er mindestens ein Dutzend seiner kostbaren Bücher.

      »Sie sind überrascht, mich zu sehen, Sir«, sagte er mit seltsam krächzender Stimme.

      Ich bestätigte dies.

      »Nun, ich habe ein Gewissen, Sir, und als ich Sie zufällig in dieses Haus gehen sah, als ich Ihnen nachhumpelte, dachte ich bei mir, ich sollte gleich hinterhergehen und diesen freundlichen Herrn besuchen und ihm sagen, daß, wenn ich mich vorhin ein wenig barsch benommen habe, dies nicht böse gemeint war, und ich mich ihm für das Aufheben meiner Bücher sehr verpflichtet fühle.«

      »Sie machen zuviel Aufhebens von dieser Kleinigkeit«, sagte ich. »Darf ich fragen, woher Sie wußten, wer ich bin?«

      »Nun, Sir, falls ich mir keine allzu große Freiheit herausnehme: Ich bin Ihr Nachbar, denn Sie werden meinen kleinen Buchladen an der Ecke Church Street finden, und gewiß mit Vergnügen. Womöglich sammeln Sie ja selbst, Sir. Ich habe hier Die Vögel Englands und Catullus und Der Heilige Krieg – jedes einzelne ein Sonderangebot. Mit fünf Bänden könnten Sie diese Lücke dort auf dem zweiten Regal genau ausfüllen. Sie sieht doch zu unordentlich aus, nicht wahr, Sir?«

      Ich wandte meinen Kopf, um den Schrank hinter mir zu betrachten. Als ich mich wieder umdrehte, stand Sherlock Holmes hinter meinem Arbeitstisch und lächelte mich an. Ich sprang auf, starrte ihn einige Sekunden in höchster Verblüffung an, und dann muß ich wohl zum ersten und letzten Mal in meinem Leben in Ohnmacht gefallen sein. Auf jeden Fall wirbelte ein grauer Nebel vor meinen Augen, und als er sich aufklärte, fand ich meinen Kragen offen und spürte den leicht brennenden Nachgeschmack von Brandy auf meinen Lippen. Holmes beugte sich über meinen Sessel, sein Fläschchen in der Hand.

      »Mein lieber Watson«, sagte die wohlbekannte Stimme, »ich muß Sie tausendmal um Verzeihung bitten. Ich hatte keine Ahnung, daß Sie das so angreifen würde.«

      Ich ergriff ihn bei den Armen.

      »Holmes!« rief ich. »Sind Sie es wirklich? Kann es denn sein, daß Sie am Leben sind? Ist es möglich, daß Sie diesem furchtbaren Abgrund entklettern konnten?«

      »Halten Sie einen Augenblick ein«, sagte er. »Sind Sie sicher, daß Sie wirklich stark genug sind, um dergleichen zu erörtern? Ich habe Ihnen durch mein unnötig dramatisches Wiedererscheinen einen ernsten Schock versetzt.«

      »Mir geht es gut, aber wahrhaftig, Holmes, ich mag kaum meinen Augen trauen. Gütiger Himmel! Der Gedanke, daß Sie – ausgerechnet Sie – in meinem Arbeitszimmer stehen sollten!« Wieder packte ich ihn beim Ärmel und fühlte darunter seinen dünnen sehnigen Arm. »Nun, jedenfalls sind Sie kein Geist«, sagte ich. »Mein lieber Freund, ich bin überglücklich, Sie zu sehen. Setzen Sie sich, und erzählen Sie mir, wie Sie dieser schrecklichen Schlucht lebendig entrinnen konnten.«

      Er nahm mir gegenüber Platz und entzündete auf seine alte nonchalante Art eine Zigarette. Er trug noch den schäbigen Gehrock des Buchhändlers, der Rest dieses Individuums aber lag in einem Haufen weißen Haars und alter Bücher auf dem Tisch. Holmes wirkte noch dünner und feiner als früher, aber auf seinem Gesicht lag ein Hauch von Totenblässe, die mir sagte, daß er in letzter Zeit kein gesundes Leben geführt hatte.

      »Ich bin froh, mich strecken zu können, Watson«, sagte er. »Es ist kein Spaß für einen großen Mann, wenn er sich stundenlang hintereinander einen Kopf kleiner machen muß. Nun, mein lieber Freund, im Zuge dieser Erklärungen haben wir, wenn ich um Ihre Mitarbeit bitten darf, eine schwere und gefährliche nächtliche Arbeit vor uns. Ich sollte Ihnen vielleicht den ganzen Stand der Dinge lieber erst dann berichten, wenn diese Arbeit vollendet ist.«

      »Ich bin überaus neugierig. Viel lieber möchte ich es jetzt hören.«

      »Sie begleiten mich heut nacht?«

      »Wann Sie wollen und wohin Sie wollen.«

      »Wahrlich wie in alten Zeiten. Wir werden noch Zeit haben, einen Happen zum Abendessen einzunehmen, ehe wir gehen müssen. Nun also zu jener Schlucht. Ich hatte keine ernstlichen Schwierigkeiten, dort herauszukommen, und zwar aus dem sehr einfachen Grund, weil ich nie darin gewesen bin.«

      »Sie

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