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Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Odo Marquard
Читать онлайн.Название Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays
Год выпуска 0
isbn 9783159617145
Автор произведения Odo Marquard
Жанр Документальная литература
Серия Reclam Taschenbuch
Издательство Bookwire
Es war die Zeit des umgekehrten Totemismus. Zu ihm gehören eigentümliche Mechanismen und Reaktionen. Etwa: der Totemismus führt zu demonstrativer Askese; der umgekehrte Totemismus führt zu demonstrativer Libertinage, die sich als emanzipatorische und antiautoritäre Bewegung verstand. Im Totemismus zwingt – nach Freuds Interpretation – der Aufstand gegen einen Menschen (den Vater) zur nachträglichen Verehrung von Tieren (des Totem); im umgekehrten Totemismus zwingt der unterlassene Aufstand gegen das Staatstier ›Leviathan‹ zum nachträglichen Aufstand gegen wirkliche Väter und wirkliche Menschen. Dabei mag – individuell oder gruppenmäßig abgestuft – die Stärke einstmaliger Konformität mit der Stärke jetziger Distanzierung zuweilen signifikant korrelieren. Auch zwingt, dass eine Tat unterlassen wurde, nun dazu, dass nachträglich jedes Denken gleich zur Tat schreiten soll: ohne Rücksicht auf Spinozas Einsicht, dass man nur dann alles denken darf, wenn man nicht alles tun darf.15 Vor allem aber entstand der Zwang zur sekundären Verähnlichung von Heute und Damals: weil das, gegen das die Revolte unterblieb, Faschismus war, soll nun das, gegen das sie nachgeholt wurde, auch Faschismus sein und wird (durch ein entsprechendes Sortiment an Theorien) dazu stilisiert; denn sonst würde der Absurditätsgehalt des nur nachträglichen Ungehorsams allzu flagrant, und es würde allzu deutlich, dass er gegenwärtig in der Regel ein komfortabler Ungehorsam ist, der den Ungehorsamen wenig kostet. Darum wird die angleichende Negativierung des Vorhandenen – die Technik, in jeder Suppe ein Haar, in jeder Wirklichkeit Entfremdung, in jeder Institution Repression, in jedem Verhältnis Gewalt und Faschismus zu entdecken – zu hoher Kunst entwickelt: notfalls durch »Verbösung des Guten«16 und »geborgtes Elend«17 wird es sekundär negativiert. Partout nicht wegzuinterpretierende Differenzen zum Damals gelten als Zusatzschurkereien des Heute, als besonders infame Tarnung: so werden gerade Unterschiede zum Ähnlichkeitsbeweis. Niemand scheint dabei zu sehen, dass diese zwanghafte sekundäre Verähnlichung von Heute und Damals als nachträgliche Verharmlosung des Faschismus zu wirken geradezu prädestiniert wäre, wenn – womit offenbar niemand ernstlich rechnet – irgendjemand ihr wirklich glauben würde.
Der nachträgliche Ungehorsam kam nicht unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern später, und zwar nicht zufällig. »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« (Brecht): erst als durch den Wiederaufbau materiell erträgliche Zustände und dann Überflussverhältnisse entstanden waren, schlug das Entsetzen über das gewesene Schreckliche voll durch aufs Gewissen und wurde erst nun – mit Zeitverzug – moralisch wirklich unerträglich: erst jetzt fand man Zeit für Schuldgefühle, für das Unbehagen an der eigenen geschichtlichen Vergangenheit. Darum wurde gerade erst jetzt – und keineswegs früher – auch jenes Entlastungsangebot weithin unwiderstehlich und erfolgreich, das die entfremdungsentlarvende Kritik darstellte, die schnell monopolisiert wurde durch jene revolutionäre Geschichtsphilosophie, zu der die »Kritische Theorie« – alsbald gegen den Widerstand ihrer Erfinder und Protagonisten – weiterentwickelt worden war: dass man – wo Schuldvorwürfe es überlasten – das Gewissen nicht mehr zu haben braucht, wenn man das Gewissen wird. Aus dem nachträglichen Gehorsam entsteht das Gewissen, das man ›hat‹; aus dem nachträglichen Ungehorsam entsteht das Gewissen, das man ›ist‹: das Tribunal, dem man entkommt, indem man es wird. Es war das Erfolgsrezept der revolutionär geschichtsphilosophischen Kritik, diese Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein zum Prinzip der Avantgarde zu machen und darauf ihren Anspruch zu gründen, dass nur noch die anderen die Vergangenheit sind und man selber nur noch die Zukunft, und zwar eben durch dieses nachträgliche Neinsagen. Eine der Geschichten vom Herrn Keuner von Brecht ist überschrieben »Maßnahmen gegen die Gewalt«18: Sie berichtet von einem Herrn Iggen (einem temperierten Akkomodateur zur Zeit der Gewalt), der erst dort, wo die Zeit der Gewalt vorbei ist, »nein« sagt. Diese Geschichte – das sei mein später Nachtrag zum sechsten Kolloquium (1972) der Gruppe »Poetik und Hermeneutik«19, zu der ich seit 1966 gehöre (ihr Motor war und ist Hans Robert Jauß) – scheint einschlägig interpretierbar: sie ist die nicht zu Ende geschriebene Parabel vom nachträglichen Ungehorsam.
Dies alles gehört in eine autobiographische Einleitung, weil es sich auch auf Introspektion stützt: auf eine Analyse des eigenen Mitmachverhaltens in den 60er-Jahren und seiner Umkehr in die Absage, in die Weigerungsverweigerung. Dazu gehört dann auch die Vermutung, dass diese Absage bei mir – einsetzend 1967: ich merke spät und habe lange Bremswege – erleichtert war durch die – gegenüber der frühen ›bloßen‹ Skepsis – nunmehr nachgeholte Konkretisierung. Denn inzwischen war bei mir der Schritt von der »Präexistenz« in die »Existenz«20 getan, der Schritt: zu heiraten (1960) und Vater zu werden, statt entlarvungsartistisch in Dauerreflexion zu verharren; die institutionelle Notwendigkeit der Habilitation endlich zu erfüllen (1963) und die Berufspflichten des akademischen Lehrers auf mich zu nehmen: als Privatdozent in Münster und ab 1965 in Gießen als Seminardirektor und als ordentlicher Professor und später – nach der Hochschulreform – als nicht mehr ganz so ordentlicher; schließlich als Dekan und seither unvermeidlich auch in mancherlei Funktionen der Wissenschaftsverwaltung, der Schul- und Hochschulpolitik, vor denen ich mich nicht gedrückt habe. Im Übrigen galt dann, was in Gides Falschmünzern Armand über seine Familie sagte: »Wir leben von Papas Glauben«, in abgewandelter Form auch von der meinen: Sie lebte von Papas Zweifeln und Verzweiflungen und seinem Talent, dieses Betriebskapital maßvoll mit Gelehrsamkeit vollzusaugen und in didaktische und transzendentalbelletristische Formulierungen umzusetzen, und sie lebte davon auf die Dauer – nach dem zweiten Ruf – nicht einmal schlecht. Sie hätte noch weit besser leben können, wenn ich dieses Betriebskapital nun auch noch durch ein Sortiment von revolutionären Gesinnungen und entsprechenden Theorien dauerhaft aufgestockt und arrondiert hätte; indes: dann hätte auch bei mir jene Diastase ein bestimmtes Spannungsquantum überschritten, die für diese ganze Phase bestimmend war: dass nämlich Reflexionswelt und Lebenswelt, Erwartungswelt und Erfahrungswelt, Gesinnungswelt und Verantwortungswelt, Reformwelt und Arbeitswelt, Resolutionswelt und Handlungswelt, Empörungswelt und glaubwürdige Welt auseinander traten und beziehungslos wurden zueinander.
3. Skepsis und Endlichkeit. Die Undurchhaltbarkeit dieser Diskrepanz – meine ich – führte zu dem, was man »Tendenzwende« genannt hat: sie war die fällige Verehrlichung der Verhältnisse. Denn es gibt das Recht der nächsten Dinge gegenüber den letzten.
Zu dieser neuen Ernüchterung gehörte der Katzenjammer in Bezug auf den Illusionsgehalt des nachträglichen Ungehorsams: mich jedenfalls wurmte es, dass mich gerade die Skepsis zu einer neuen Vertrauensseligkeit geführt hatte. Es scheint – unbehaglicherweise – so etwas zu geben wie ein Gesetz der Erhaltung der Naivität: