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Man musste also etwas wagen, man durfte nicht zu sehr darauf achten, was den Konventionen entsprach und was nicht. So kam man voran. Einen Preis legte er nicht fest, das wäre zu unverfroren gewesen, schließlich war er noch Schüler. Auf der Vernissage, bei der Sandwiches und Tee serviert wurden, überkam ihn das beglückende Gefühl, dass er sich zu Recht an diesem Ort befand. Er war erst achtzehn Jahre alt und gehörte schon dazu. Er hatte seine Eltern eingeladen, und ihr Stolz auf den Sprössling, dessen Bilder neben denen seiner Lehrer hingen, hob sein Selbstbewusstsein zusätzlich. Kurz nach ihrer Abreise kam ein Mann auf David zu und bot ihm zehn Pfund für das Porträt seines Vaters. Zehn Pfund! Mehr als ein Viertel seines Stipendiums, mit dem er drei Monate auskommen musste, für ein Bild? David klappte schon den Mund auf, um Ja zu sagen, als ihm bewusst wurde, dass die Leinwand nicht ihm gehörte. Bezahlt hatte sie sein Vater, er selbst hatte sie nur bemalt. «Einen Moment!» Er stürzte ans Telefon, um seinen Vater anzurufen, der mit großer Genugtuung vernahm, dass jemand sein Porträt kaufen wollte – trotz des schlammbraunen Farbtons, den sein Sohn gegen seinen ausdrücklichen Rat für das Gesicht verwendet hatte, mit dem Hinweis, auf der Bradford School sei das so üblich. Auch als er die zehn Pfund in der Tasche hatte, konnte David es noch nicht fassen und rief seine Mutter an: «Mama, ich habe Papa verkauft!» Mrs. Hockney prustete los. Zur Feier des Tages lud David seine Freunde am Abend ins Pub ein. Das Vergnügen kostete ihn die astronomische Summe von einem Pfund, aber es blieben immer noch neun Pfund für Farben und Leinwände.

      Derek und London hatten seinen Horizont erweitert. Er hatte verstanden, dass man nicht in Bradford bleiben konnte, wenn man Künstler werden wollte. Er musste nach London gehen und an einer Kunsthochschule studieren, die diesen Namenn verdiente. Zwei Sommer in Folge verbrachte er damit, die Straßen von Bradford nach der Natur zu malen. Farben und Pinsel transportierte er in einem Kinderwagen, den sein Vater repariert hatte. Er bat seine Mutter, einen Teil des Hauses als Atelier nutzen zu dürfen. Sie regte sich auf, wenn er den Fußboden mit Farbe bekleckste und seine Farbtuben nicht zudrehte, sie kritisierte seine Nachlässigkeit und seinen mangelnden Respekt vor fremdem Hab und Gut, aber er wusste, dass sie ihn immer unterstützen würde. Sie war auf seiner Seite. Im Frühjahr ’57, er war keine zwanzig, war die Mappe fertig. Er schickte sie ans Londoner Royal College of Art und an eine andere Kunstschule, The Slade, um seine Chancen zu verdoppeln, denn das Royal College nahm nur einen von zehn Bewerbern an. Er wurde zu einem Gespräch eingeladen und fuhr nach London. In der Nacht davor tat er kein Auge zu, denn er wusste sehr wohl, dass er sich in vielen Bereichen nicht auskannte und dass er seinen Rivalen, die im Dunstkreis der Museen aufgewachsen waren, unterlegen war.

      Er wurde angenommen.

      Bevor er sein Studium beginnen konnte, musste er seinen Militärdienst ableisten. Als Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen, wie sein Vater, wurde er in der Krankenpflege eingesetzt, zunächst in einer Klinik in Leeds, dann in Hastings, und in den folgenden zwei Jahren kümmerte er sich von morgens bis abends um alte und kranke Menschen, rieb ihre gebrechlichen Körper mit Salbe ein und wusch die Toten. Zum Malen blieb keine Zeit, er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Abends schlief er über der Lektüre von Proust ein, von dem er nicht allzu viel begriff. Doch er würde diese anstrengende, wenig gewürdigte Arbeit nicht sein ganzes Leben lang verrichten müssen und war sich dieses Privilegs sehr bewusst. Das Royal College erwartete ihn.

      Und dann konnte er endlich loslegen.

      Er lebte in London, besuchte die angesehenste Kunsthochschule von ganz Großbritannien, eine der besten überhaupt. Seine neuen Mitstudenten äußerten sich im Brustton der Überzeugung zu Themen, über die er noch nie nachgedacht hatte. Als einer von ihnen lautstark tönte: «Nach Pollock kann man nicht mehr wie Monet malen!», wurde David rot, als sei von ihm selbst die Rede. Er fand heraus, dass das gegenständliche Malen der Vergangenheit angehörte, dass es antimodern war. Die französischen Maler interessierten die anderen Studenten nicht. Er hätte sich geschämt, ihnen das Porträt seines Vaters zu zeigen, das er vier Jahre zuvor mit so viel Stolz verkauft hatte; es war im Stil der Euston Road School gemalt, erinnerte an französische Künstler wie Vuillard und Bonnard. Neuerdings zählte nur noch die abstrakte Malerei aus den USA – großformatige Gemälde, die nichts darstellten und keine Titel mehr trugen, sondern Ziffern. Auch David hatte natürlich im Winter 1959 in der Tate Gallery die große Ausstellung «The New American Painting» über den amerikanischen abstrakten Expressionismus gesehen und De Kooning, Pollock, Rothko, Sam Francis und Barnett Newman entdeckt. Diese Ausstellung, wie später eine ähnliche in der Whitechapel Gallery, hatte sein Kunstverständnis erschüttert. Man malte zeitgenössisch oder gar nicht.

      Was würde er als Erstes malen? Sicher nichts Gegenständliches. Er sprach ohnehin mit einem starken Yorkshire-Akzent und hatte furchtbare Angst, für einen Provinzler, einen Sonntagsmaler gehalten zu werden. Er musste auf sicherem Terrain bleiben, und das bedeutete zeichnen. Ein menschliches Skelett, das in einem der Säle hing, lieferte ihm die nötige Inspiration. Ein Skelett, das war originell. Eine große, sehr detaillierte Zeichnung würde die Qualität seiner Ausbildung im Hinblick auf Anatomie und Perspektive erkennen lassen.

      Sein Skelett erfreute sich allgemeiner Aufmerksamkeit. Es wurde als Glanzleistung bezeichnet. Die erste Hürde war überwunden, er hatte sich nicht lächerlich gemacht. Danach war ihm ein wenig wohler. Einer seiner Kommilitonen bot ihm sogar fünf Pfund für die Zeichnung, ein Amerikaner, ein Sohn aus reichem Hause und ehemaliger G.I., der mit einem großzügigen Stipendium der US-Army nach London gekommen war. Man musste schon Amerikaner sein, um für eine Schülerzeichnung fünf Pfund zu berappen! Ron war fünf Jahre älter als er, er war verheiratet und hatte ein Baby. Er wohnte in einem richtigen Haus, im Gegensatz zu David, der sich in dem dynamischen Londoner Künstlerviertel Earls Court ein winziges Zimmer mit einem anderen Studenten teilte. Ron malte langsam und scherte sich wenig um die Meinung der anderen. Seine geistige Unabhängigkeit erinnerte David an den Eigensinn seines Vaters. Sie wurden Freunde. Sie kamen beide früh in die Hochschule, früher als die anderen Studenten, und tranken einen Tee zusammen, bevor sie sich an die Arbeit machten. Sie unterhielten sich über Kunst, über Kunstgeschichte, über die Gegenwartskunst. David wusste schon länger, dass die Maler, die er in Bradford gekannt hatte – und dazu zählten auch seine Lehrer an der School of Art – keine Künstler waren. Endlich verstand er auch warum: Sie stellten sich keine Fragen zu ihrer eigenen Verortung innerhalb der Kunstgeschichte. Man konnte aber kein Künstler sein, ohne sich diese fundamentale Frage zu stellen und darauf eine Antwort zu finden. David hatte nicht mehr viel gemein mit dem naiven jungen Mann, der zufrieden stundenlange Spaziergänge unternahm, einen mit Farben und Pinseln beladenen Kinderwagen vor sich herschob und hie und da stehen blieb und einen Baum oder ein Haus malte. Gegenständliche Kunst war etwas für Plakatmaler und Leute, die Weihnachtskarten gestalteten. Er war dieser Falle um Haaresbreite entgangen, und die neue Atmosphäre, in der er schwelgte, hatte ihm die Augen geöffnet: Von nun an würde er ein Moderner sein. Ron nickte und lächelte.

      David hätte glücklich sein müssen. Er hatte alles getan, um an dieser Hochschule angenommen zu werden. Als die Ergebnisse herausgekommen waren, hatte er das Gefühl gehabt, durch ein Nadelöhr geschlüpft zu sein, Zugang zum Paradies erhalten, sich endgültig vor dem Angestelltendasein gerettet zu haben, das seine Brüder, seine Schwester und seine Nachbarn in Bradford fristeten. Während seiner zwei Jahre als Krankenpfleger hatte er von seinem zukünftigen Leben geträumt und sich eine geduldige Erwartungshaltung zugelegt, weil er wusste, dass der Moment der Befreiung nahte, der ihn aus einem Jahrhundert des Schlafs erlösen würde. Nun war er endlich frei, und das lang erahnte, ersehnte, zu guter Letzt sogar greifbar gewordene Glück entglitt ihm. Zum ersten Mal im Leben machte ihm das Malen keine Freude mehr. Er verspürte eine merkwürdige Distanz zu seiner Arbeit, ihm fehlten Energie und Schwung. Vielleicht hatte er sich getäuscht. Vielleicht war er nur ein Hochstapler. Der Amerikaner hörte seinem 22-jährigen Freund zu, der ihm in seiner großen Ratlosigkeit seine Ängste offenbarte. Auch über anderes sprachen sie, über Politik, Literatur, Freundschaft, Liebe und über die vegetarische Ernährung, die David, wie seine Eltern, praktizierte. Durch die täglichen Gespräche mit Ron fühlte er sich zumindest weniger allein.

      «Was du malen solltest», sagte Ron eines Tages, «ist das, was für dich zählt. Du musst dir keine Sorgen machen. Du bist zwangsläufig ein Gegenwartskünstler. Du bist es, weil du in deiner Zeit lebst.»

      Das

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