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ich bin immer noch in dieser Phase, in der mich alles überwältigt. Also ernsthaft … Jesus hat sich für meine Sünden kreuzigen lassen. Und dadurch kann ich jetzt gereinigt werden, zweitausend Jahre später?“

      Claires Augen sind auf meine linke Schläfe gerichtet. „Ja, das ist ganz schön verrückt, was?“, fragt sie.

      „Im Gottesdienst hat der Pastor darüber gesprochen, dass Jesus für uns betet. ‚Sich für uns einsetzt‘ waren, glaube ich, seine Worte. Wahrscheinlich war das der Moment, in dem ich zum ersten Mal begriffen habe, dass es Jesus wirklich gibt. Und zwar heute. Dass er lebendig ist … Weißt du?“

      An ihrem Gesichtsausdruck kann ich ablesen, dass es wohl schon einige Zeit her sein muss, seit sie sich darüber Gedanken gemacht hat. Bin ich wohl zu weit gegangen? Erst überlegt Claire eine Weile, dann sagt sie: „Es ist spannend, dabei zu sein, wenn jemand den Glauben zum ersten Mal entdeckt. Für viele von uns wird er zum alten Hut.“

      „Wie kann Glaube jemals alt werden?“, frage ich verwundert.

      „Keine Ahnung“, antwortet sie. „Vielleicht werden wir allmählich immun.“

      „Immun“, wiederhole ich. „Ja, das klingt plausibel. Du hörst es so oft, dass du anfängst es auszublenden. Wenn ich zum Glauben komme, dann will ich niemals so werden.“

      „Wenn du zum Glauben kommst? Für mich hört es sich so an, als glaubst du bereits.“

      Das Herz rutscht mir in die Hose und ich weiß, dass ich ihr mein Zögern nicht erklären kann. „Vermutlich befinde ich mich gerade in einer Phase, in der ich verschiedene Möglichkeiten abwäge.“

      Ihr Blick wandert hinab zu ihrem Getränk. „Ich weiß, dass ich wohl als lauwarm bezeichnet werden kann. Ehrlich gesagt ist mir das bis jetzt gar nicht aufgefallen. Aber trotzdem kann ich dir einen Rat geben: Warte nicht.“

      Plötzlich laufen ihre Wangen rot an und ich merke, dass sie es ernst meint. „Ernsthaft“, fährt sie fort, „wenn du so begeistert von Jesus bist, mach es fest! Dieses Gefühl kann verschwinden und kommt vielleicht nicht wieder. Für mich hört es sich so an, als würde Jesus um dich werben.“

      „Er klopft an meine Tür“, sage ich, weil ich letzte Nacht darüber etwas in der Bibel gelesen habe.

      „Genau. Lass ihn rein.“

      Niemals hätte ich erwartet, dass dieses Mittagessen auf so ein Gespräch hinausläuft. Wir schweigen beide, während wir essen. Anschließend schneiden wir das Thema nicht wieder an. Trotzdem bleiben mir ihre Worte den ganzen Tag über im Kopf.

      9

      Casey

      Man sagt, dass ein Spaziergang im Wald irgendetwas in deinem Gehirn bewirkt. Glückshormone sollen dabei ausgeschüttet werden, die für Wohlbefinden sorgen. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, aber definitiv hat die Gesellschaft anderer Menschen denselben Effekt auf mich. Das Geräusch von Leuten, die miteinander reden, wenn jemand mein Lächeln erwidert oder in der Menschenmenge zufällig meine Schulter streift – all das trägt zu meinem inneren Frieden bei. Nur eins nicht: wenn Menschen mich anstarren, weil ich wie die Mörderin aus dem Fernseher aussehe.

      Ich parke vor der Megachurch in der Nähe meines Motels und starre die großen Eingangstüren an. Das ehemalige Kino hatte man vor einiger Zeit in eine Kirche umgebaut. Das weiß ich nur, weil gestern während einer Folge von Andy Griffith eine Werbung geschaltet wurde, in der diese Gemeinde ihren Gottesdienst anpries. Es wurde ein dunkler Raum gezeigt, in dem lediglich die Bühne hell erleuchtet war.

      Bestimmt falle ich in der Dunkelheit nicht auf, wenn ich einfach ein paar Minuten später komme. Im Rückspiegel überprüfe ich meine Perücke. Wenn ich mich beeile, kann ich meine Sonnenbrille vielleicht auflassen, bis ich in der Dunkelheit des Saals verschwunden bin.

      Vor dem Gebäude stehen Leute, die die Besucher begrüßen. So schnell ich kann, laufe ich vorbei, werfe ihnen ein Lächeln zu und tue so, als würde ich hierher gehören.

      Der Gemeindesaal sieht aus wie im Fernsehen. Kinosessel und gedimmtes Licht. Die Gottesdienstbesucher singen bereits. Nur die Bühne ist hell erleuchtet, weil eine Band den Gesang von vorne begleitet.

      In einer der letzten Reihen suche ich mir einen Platz und lasse mich in den Sessel sinken. Der Text des Liedes wird auf einem Bildschirm angezeigt. Zwar kenne ich das Lied nicht, trotzdem verfolge ich jedes einzelne Wort und genieße dabei den Klang der mehreren Hundert Stimmen. Ich frage mich, ob es im Himmel so ähnlich sein wird wie hier: Tausende, ja Millionen von Stimmen, die alle Gott zur Ehre singen. Ob ich das wohl jemals zu hören bekomme?

      Nach der ersten Strophe ist mir die Melodie vertraut und ich singe mit. Ein tiefer Friede durchströmt mich. Kein Vergleich zu dem Gefühl, das ich vielleicht mal in einem Wald verspürt habe.

      Wie wäre es wohl, wenn ich zu dieser Gruppe dazugehörte? Wenn ich begrüßt würde wie ein Familienmitglied, wenn ich zur Tür hereinkäme? Aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.

      Zugleich frage ich mich, ob Dylan das wohl in seiner Kirche erlebt. Ich stelle mir vor, wie er Leute umarmt und ihnen zur Begrüßung die Hände schüttelt, wie er in seiner geöffneten Bibel mitliest, während die Predigt gehalten wird und sich dabei Notizen an den Rand schreibt. Vermutlich versuchen ständig irgendwelche Leute, ihn mit irgendeiner unverheirateten christlichen Frau zu verkuppeln. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wie komme ich überhaupt dazu, mir eine Zukunft mit ihm vorzustellen?

      Der Prediger tritt ans Mikrofon und bittet die Zuhörer, die Personen rechts und links zu begrüßen. Zu meinem Entsetzen geht das Licht an. Überall beginnen Gespräche.

      So schnell ich kann, verlasse ich meine Reihe und eile Richtung Ausgang. Die Begrüßungsleute sind nicht mehr zu sehen, wahrscheinlich sind sie jetzt selber im Saal. Niemand hält mich auf.

      Erst an meinem Wagen werde ich langsamer. Hoffentlich hat mich niemand erkannt. Auf dem Weg zurück in mein Motel weine ich. Die Tränen hinterlassen wieder eine schmutzige Spur auf meinem Gesicht. Mit aller Kraft versuche ich, mich an den tiefen Frieden zu klammern, den ich ein paar Sekunden lang gespürt habe. Er wird noch eine Weile vorhalten müssen. Und ich werde dafür sorgen, dass meine Gedanken mir nicht im Wege stehen.

      In meinem Zimmer öffne ich meine Bibel und lese die Stelle, über die der Pastor in der Kirche predigen wollte. Aber ich verstehe sie nicht. Was hätte er wohl gesagt? Schade, dass ich es nicht gehört habe.

      Die Bibelstelle tippe ich bei Google ein und sofort werden mir verschiedene Seiten angezeigt. Als ich auf einen Link klicke, öffnet sich eine Seite mit der Predigt eines anderen Pastors. Ich lasse sie laufen und stelle mir dabei vor, dass ich selbst in diesem Gottesdienstraum sitze und gemeinsam mit den anderen Besuchern die Worte in mich aufsauge. Warum ist mir diese Idee nicht schon früher gekommen? Ich kann so viel über das Christsein lernen, wenn ich mir einfach YouTube-Videos ansehe.

      Die nächsten Stunden verbringe ich damit, dem Pastor zuzuhören, während er über sechs verschiedene Themen spricht. Anschließend fühle ich mich besser und es macht mir nicht mehr so viel aus, dass ich bei dem Gottesdienst nicht dabei sein konnte. Selbst wenn das hier nicht das Haus Gottes ist, kann ich trotzdem seine Stimme hören.

      10

      Dylan

      Kurt Keegans Anruf kommt am Freitag und ich nehme argwöhnisch ab. Ich kann meinen ehemaligen Schulfreund nicht mehr als Kumpel bezeichnen, wenn ich gleichzeitig weiß, dass er der Sohn eines Serienmörders ist.

      „Dylan, hast du heute Abend schon was vor?“, fragt er.

      Ich versuche fröhlich zu klingen. „Wieso, was schwebt dir denn vor?“

      „Ich dachte mir, dass wir uns auf einen Drink im Monnogan’s treffen könnten.“

      „In dieser Absteige?“, frage ich scherzhaft, weil ich weiß, dass es sich dabei

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