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Das Zeichen der Vier. Arthur Conan Doyle
Читать онлайн.Название Das Zeichen der Vier
Год выпуска 0
isbn 9783955012304
Автор произведения Arthur Conan Doyle
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Am Lyceum Theatre standen die Leute schon dicht gedrängt vor den Seiteneingängen, und vorn rasselten in dichter Folge zwei- und vierrädrige Wagen heran und ließen Männer mit steifer Hemdbrust und diamantenbehängte, stolatragende Frauen aussteigen. Wir hatten die dritte Säule, den Ort unseres Rendez-vous, kaum erreicht, als wir auch schon von einem kleinen, kräftigen, dunklen Mann in Kutscherlivree angesprochen wurden.
»Sind Sie die Herrschaften, die Miss Morstan begleiten?« fragte er.
»Ich bin Miss Morstan, und diese beiden Gentlemen sind Freunde von mir«, erklärte sie.
Er musterte uns mit einem eigentümlich bohrenden und forschenden Blick.
»Sie müssen schon entschuldigen, Miss«, sagte er mit einem Unterton von Hartnäckigkeit, »aber ich habe den Auftrag, mir Ihr Wort darauf geben zu lassen, daß keiner Ihrer Begleiter ein Polizeibeamter ist.«
»Sie haben mein Wort darauf«, antwortete sie.
Nun stieß er einen schrillen Pfiff aus, worauf ein Gassenjunge eine Kutsche heranführte und uns den Verschlag öffnete. Der Mann, der uns angesprochen hatte, kletterte auf den Kutschbock, während wir unsere Plätze im Wageninneren einnahmen. Kaum war dies geschehen, ließ unser Fahrer die Peitsche knallen, und wir brausten los, hinein in die nebligen Straßen.
Die Situation war eigenartig: wir waren unterwegs in unbekannter Mission zu einem unbekannten Ziel. Doch wenn diese Aufforderung nicht bloß ein schlechter Scherz gewesen war, was kaum wahrscheinlich erschien, dann hatten wir allen Grund zu der Annahme, daß bei unserer Reise Entscheidendes auf dem Spiel stand. Miss Morstan verhielt sich nach wie vor entschlossen und gefaßt. Ich bemühte mich, sie ein wenig zu unterhalten und aufzuheitern, indem ich Anekdoten von meinen Abenteuern in Afghanistan zum besten gab. Ehrlich gesagt, war ich jedoch selber so aufgeregt ob unserer Situation und so gespannt auf die Dinge, die da kommen sollten, daß meine Geschichten etwas verwickelt wurden. Bis zum heutigen Tage behauptet sie, ich hätte ihr die ergreifende Geschichte erzählt, wie einmal mitten in stockdunkler Nacht eine Muskete in mein Zelt geguckt und ich ein doppelläufiges Tigerjunges darauf abgefeuert hätte. Am Anfang hatte ich noch eine ungefähre Vorstellung von der Richtung, in die wir fuhren, aber schon nach kurzer Zeit – was Wunder bei der Geschwindigkeit der Fahrt, dem Nebel und meiner beschränkten Ortskenntnis – hatte ich die Orientierung verloren und nahm nur noch wahr, daß wir offenbar einen weiten Weg zurückzulegen hatten. Sherlock Holmes hingegen verlor keinen Moment lang den Überblick, und während der Wagen ratternd offene Plätze durchquerte, um dann wieder in gewundene Nebenstraßen einzutauchen, murmelte er deren Namen vor sich hin.
»Rochester Row«, sagte er, »und jetzt Vincent Square. Jetzt kommen wir bei der Vauxhall Bridge Road heraus. Es scheint, wir halten auf die Surrey-Seite8 zu. Ja, dacht ich mir's doch, jetzt sind wir auf der Brücke. Schauen Sie, man kann einen Blick auf den Fluß erhaschen.«
Tatsächlich sahen wir flüchtig einen Abschnitt der Themse und den Widerschein der Lampen auf dem breiten, ruhig fließenden Gewässer, aber schon war der Wagen weitergejagt und ins Straßengewirr des jenseitigen Ufers eingetaucht.
»Wandsworth Road«, bemerkte mein Gefährte. »Priory Road. Larkhall Lane. Stockwell Place. Robert Street. Coldharbour Lane. Unsere Ausfahrt scheint uns nicht in die allervornehmsten Gegenden zu führen.«
Tatsächlich befanden wir uns in einer höchst zweifelhaften, wenig einladenden Umgebung. Lange Reihen düsterer Backsteinhäuser wurden einzig vom Flitter grell erleuchteter Pubs an den Straßenecken aufgelockert. Es folgten Reihen von zweigeschossigen Einfamilienhäusern, jedes mit einem winzig kleinen Vorgarten, dann wieder endlose Reihen von neuen, aufdringlichen Backsteingebäuden – monströse Tentakel, welche die riesenhafte Stadt ins Land ausstreckte. Endlich hielt der Wagen vor dem dritten Haus einer neugebauten Häuserreihe. Keines der Nachbarhäuser schien bewohnt zu sein, und auch das, vor dem wir standen, war dunkel bis auf einen schwachen Schimmer, der durch das Küchenfenster drang. Auf unser Klopfen hin wurde die Tür jedoch unverzüglich aufgerissen von einem Hindu-Diener, der einen gelben Turban, ein weißes, wallendes Gewand und eine gelbe Schärpe trug. Die exotische Gestalt wirkte seltsam fehl am Platz in diesem Allerweltseingang eines drittklassigen englischen Vorortshauses.
»Der Sahib9 erwartet Sie«, sagte der Diener, und er hatte noch nicht ausgeredet, als aus dem Innern des Hauses eine hohe, schrille Stimme an unser Ohr drang.
»Bring sie zu mir herein, Khitmutgar10«, krähte sie, »bring sie sogleich zu mir.«
4. Die Geschichte des kahlen Mannes
Wir folgten dem Inder durch einen schmutzigen, schäbigen Gang, der schlecht beleuchtet und noch schlechter eingerichtet war, bis wir rechts zu einer Tür gelangten, die er aufstieß. Blendend helles Licht strömte uns entgegen, und mittendrin stand ein kleiner Mann, dessen auffallend hoher Schädel von einem Kranz roter Borsten gesäumt wurde, über denen sich eine glänzende Glatze erhob wie ein Berggipfel über den Tannenwipfeln. Er rang in einem fort die Hände, und über sein Gesicht lief ein unablässiges Zucken: bald lächelnd, bald sich verfinsternd kamen seine Züge nicht einen Moment lang zur Ruhe. Die Natur hatte ihn mit einer Hängelippe und einer deutlich sichtbaren Reihe gelber, unregelmäßiger Zähne ausgestattet, was er zu verbergen suchte, indem er sich immer wieder mit der Hand über die untere Gesichtshälfte fuhr. Trotz seiner auffälligen Kahlheit schien er noch jung zu sein. Tatsächlich hatte er eben erst sein dreißigstes Lebensjahr vollendet.
»Zu Ihren Diensten, Miss Morstan«, wiederholte er mehrfach mit hoher, dünner Stimme. »Zu Ihren Diensten, Gentlemen. Bitte treten Sie ein in mein kleines Heiligtum. Es ist zwar nicht groß, Miss, aber ganz nach meinem Geschmack eingerichtet. Eine Oase der Kunst in der öden Wüstenei von Südlondon.«
Der Anblick der Wohnung, in die wir gebeten wurden, setzte uns alle in Erstaunen. Sie wirkte in diesem armseligen Hause so fehl am Platz wie ein Diamant reinsten Wassers in einer Fassung aus Katzengold. Üppigste schimmernde Vorhangstoffe und Tapisserien bedeckten die Wände und waren hier und da gerafft, um den Blick auf ein kostbar gerahmtes Gemälde oder eine orientalische Vase freizugeben. Der Teppich war bernsteinfarben und schwarz und von solcher Dicke und Weichheit, daß man beim Gehen behaglich darin einsank, als schritte man über einen Moosteppich. Zwei große Tigerfelle, die quer darüber gebreitet waren, verstärkten noch den Eindruck von orientalischem Luxus, ebenso wie eine riesige Huka11, die auf einer Matte in der Ecke stand. Eine brennende Lampe in Gestalt einer silbernen Taube hing an einem beinahe unsichtbaren Golddraht in der Mitte des Zimmers und erfüllte die Luft mit einem feinen, aromatischen Wohlgeruch.
»Mr. Thaddeus Sholto«, stellte sich der kleine Mann, unentwegt zuckend und lächelnd, vor. »So lautet mein Name. Und Sie müssen Miss Morstan sein; und diese beiden Herren ...«
»Dies hier ist Mr. Sherlock Holmes, und dies ist Dr. Watson.«
»Oh, ein Arzt?« schrie er ganz aufgeregt. »Haben Sie Ihr Stethoskop dabei? Dürfte ich Sie wohl fragen ... Hätten Sie wohl die Freundlichkeit ...? Ich mache mir schwere Sorgen um meine Mitralklappe – wenn Sie so gut sein wollten ... Die Aortenklappe arbeitet zuverlässig, aber ich wäre sehr froh zu erfahren, was Sie von meiner Mitralklappe halten.«
Ich horchte sein Herz ab, wie er es gewünscht hatte, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen, abgesehen davon, daß er vor Angst ganz außer sich war, denn er schlotterte am ganzen Leib.
»Hört sich alles normal an«, sagte ich, »es besteht kein Grund zur Beunruhigung.«
»Sie werden meine Ängstlichkeit entschuldigen, Miss