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Alle paar Minuten sieht er auf die Uhr. Endlich, um Punkt 7.30, richtet er sich das Frühstück. Der Bravo frühstückt immer, wenn irgend möglich, um halb acht, und immer dasselbe: zwei Scheiben Roggenmischbrot der Sorte Gestaubter Wecken mit Kalbsleberstreichwurst sowie Sirius-Camembert. Dazu eine Tasse Nescafé. Dies dient ihm als Ausgleich dafür, dass er sich in der Öffentlichkeit keinerlei Regelmäßigkeiten gestattet. Eingeschliffene Gewohnheiten können so verräterisch sein wie Fingerabdrücke. Ein guter Bravo wechselt seine von Fremden nachvollziehbaren Verhaltensmuster so häufig wie die Unterwäsche.

      Und er ist ein guter Bravo; einer der besten und gefragtesten hierzulande!, versucht er sich zu beruhigen, während er an dem Streichwurstbrot kaut. Aber der innere Frieden, den ihm dieses Ritual sonst verschafft, will nicht einkehren. Ungeheuerliches ist geschehen. Er hat einen Mordauftrag nicht ausgeführt.

      Hat er das wirklich nicht?

      Die Zielperson, der Buchmacher Hugo Pekarek, ist tot. Also wurde das gewünschte Endergebnis erreicht. Die erste Hälfte des Honorars ist bereits als Anzahlung überwiesen worden, auf ein nach allen Regeln der Kunst anonymisiertes, nicht bis zu ihm verfolgbares Bankkonto. Ob der zweite Teil wie vereinbart binnen zwei Tagen nachkommt oder auch nicht – der Bravo könnte die Episode ad acta legen und weiterleben wie bisher.

      Kann er das?

      Ihn stört, dass Pekareks Terminierung mit derart viel Tamtam vonstattenging. Eine Gasexplosion? Hallo! Es entspricht absolut nicht seinem Stil, Aufsehen zu erregen, und schon gar nicht, irgendwelche Unbeteiligte eventuell in Mitleidenschaft zu ziehen.

      Freilich, wer wüsste davon, außer dem unbekannten Auftraggeber, der letztlich ja doch bekommen hat, was er wollte? Maximal zwei, drei Zwischenhändler; Relaisstationen, über die der Kontakt hergestellt wurde. Personen, deren Verschwiegenheit ihr wertvollstes Kapital darstellt.

      Trotzdem. Der Bravo hat einen Ruf zu wahren. Nicht bloß aus Eitelkeit. Wer würde seine Dienste noch anfragen, wenn damit zu rechnen wäre, dass er nebenbei ein halbes Haus in die Luft sprengt?

      Er selbst entkam nur mit knapper Not. Achtung: Könnte das Ganze nicht überhaupt eine Falle gewesen sein, zugeschnitten auf niemand anderen als ihn?

      Wer sollte ihm eine solche Falle stellen? Und warum?

      Der Bravo weiß von keinen persönlichen Widersachern. Jemand, den es als Person nicht gibt, hat keine Feinde. Geschweige denn, dass er jemals irgendeine Fehde angefangen oder sich auf etwas Vergleichbares eingelassen hätte.

      Mitbewerber, die ihm die Erträge neiden? Mag sein. Aber wenn er in den vergangenen Jahren keinen groben Fehler gemacht hat – und das hat er ziemlich sicher nicht –, dann wissen die zirka zwei Handvoll anderen, richtig guten, in Mitteleuropa tätigen Profi-Killer nicht mehr über ihn als er über sie. Und es gibt nach wie vor mehr als genug Geschäft für alle, sodass man sich nicht in die Quere kommen muss.

      Gleichwohl darf er diesen Aspekt nicht aus den Augen lassen. In Summe jedoch bleibt vorerst: Der Einzige, der ihm gefährlich werden könnte, ist – er selbst.

      Dem Bravo wird mulmig. Ihm ist die Besonderheit seiner Existenzweise bewusst. Es macht etwas mit einem, wenn man von Berufs wegen immer wieder mal anderen die Lebenszeit drastisch verkürzt. Final. Aber da entsprechender Bedarf besteht, muss das irgendwer machen; und es hat niemand was davon, wenn man derlei Operationen einem Stümper überlässt … So hat der Bravo seine Tätigkeit bisher vor sich selbst gerechtfertigt. Er sieht weiterhin keinen Grund, von dieser Einstellung abzurücken. Indes hält er seit Langem für möglich, dass seine Irritationen zunehmen könnten.

      Was er tut, basiert auf striktester Geheimhaltung. Deshalb agiert er tagaus, tagein auf eine Weise, die hart an Paranoia grenzt. Die Sicherheitsvorkehrungen, denen er sich nahezu pausenlos unterwirft, sind durchaus neurotisch zu nennen. Diesbezüglich hat er alles nachgelesen, was er finden konnte, und sich selbst peinlich genau überwacht. Bis jetzt konnte er keine bedenklichen Anzeichen feststellen. Bis vor Kurzem. Aber. Wenden sich seine Erkenntnisse und Maßnahmen nun doch gegen ihn? Hat sein Unterbewusstsein rebelliert, um den gesellschaftlich-moralischen Dauerdruck abzuschütteln?

      Kurz gesagt: Könnte er selbst sich diese Falle gestellt haben? Hat er den heimlichen Wunsch, erwischt zu werden?

      Die menschliche Wahrnehmung ist ungemein subjektiv, notgedrungen selektiv. Das Gehirn kann nicht die vollständige Fülle dessen verarbeiten, was an Außenreizen einströmt. Unaufhörlich. Über all diese verflixten, nicht willkürlich abschaltbaren Sinne. Der Verstand muss auswählen, reihen, Prioritäten zuweisen. Sinn stiften. Zusammenhänge postulieren, wo objektiv gar keine bestehen.

      Überzeugt davon, dass er nicht wesentlich klüger ist als die Normalbürger, erkennt der Bravo, dass er, gerade er als Profi, professionellen Beistand in Anspruch nehmen sollte. Wie könnte er sich jemals wieder auf die Straße wagen, wenn er sich selbst nicht mehr völlig vertraute?

      Seine verdeckten Suchanfragen werfen zwei Psychiater aus, denen im Schattennetz höchste Diskretion zugebilligt wird. Einer davon ordiniert in Linz. Er ist spezialisiert auf Aussteiger, die ihre rechtsradikale Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Der andere, ein DDr. Gustav Guthmann, ist in Graz ansässig. Mehrere hymnische Einträge weisen ihn als einen Therapeuten aus, der nichts an die Behörden verrät, wie schlimm auch immer die Geständnisse seiner Klienten sein mögen.

      Der Bravo telefoniert. Dann beendet er das Frühstück. Wieder etwas zuversichtlicher, räumt er die Küche zusammen, zieht angemessene Kleidung an, wirft den Müllsack in einen drei Häuserblocks weiter gelegenen Kübel und fährt nach Graz.

       3

      „Ah ja“, sagte ich. „Und da sind Sie nun.“

      „Sie verstehen, was ich mir von Ihnen erhoffe?“

      „Im Prinzip schon. Aber mir fehlen noch ein paar Details“, wich ich einer klaren Antwort aus. „Dieser Vorfall in Wien, wann war der genau?“

      „Letzte Nacht“, sagte der Mann, der sich Bravo nannte, mit seiner gleichförmig unaufdringlichen Stimme. „Sie sind der Experte. Kennen Sie Erkrankungen, die auf meinen Fall zutreffen könnten?“

      Quietschend ging die Tür auf. Professor Gustav Guthmann schlapfte herein, unter dem einen Arm eine Aktentasche eingeklemmt, in der anderen Hand das Endstück eines Salzstangerls, das er sich gerade in den Mund stecken wollte. Er hielt in der Bewegung inne, hüstelte und sagte „Oh. Servus, Pez. Beinahe hätte ich vergessen …“

      Dann bemerkte er die andere Person im Raum und fragte, die Augen zusammenkneifend, „Und wer sind Sie?“

      Peinlichen Konfrontationen wich ich prinzipiell aus, seit ich zu einigermaßen rationalem Denken fähig war. Deshalb rief ich Gugu nur aufgesetzt heiter zu: „Muss weg, zum Bahnhof! Buch liegt am Tisch“ und nahm rückwärts Reißaus.

      Abgang Peter Szily, links hinten.

      Kein Applaus, wie gewohnt.

      Zum Glück war der Zug nach Wien recht schütter bevölkert. Keiner der Vierertische im ersten Waggon war gänzlich unbesetzt. Mit geübtem Blick erspähte ich jedoch eine allein reisende, üppig gebaute ältere Dame, deren buntes Dirndlkleid und kleines Gepäck – eine altrosa Kunstleder-Handtasche sowie ein praller Papiersack des Traditionskaufhauses Kastner & Öhler – zur Hoffnung Anlass gab, sie würde in Bruck an der Mur umsteigen, zwecks Anschluss in Richtung ihrer alpinen Heimat.

      Mit meiner schmelzendsten Erbschleicherstimme fragte ich: „Ist hier bitte noch frei, gnädige Frau?“

      Sie bejahte. Ich nahm Platz, packte mein iPad aus und atmete tief durch. Wenn ich ehrlich war, hatte mich die Unterhaltung mit dem Mann, der sich als Bravo ausgab, doch ziemlich aufgewühlt und verwirrt. Was er erzählt hatte, war teilweise zu realistisch geschildert gewesen, als dass ich es purer Fantasterei hätte zuschreiben können. Ergo googelte ich, sobald sich die wie immer zickige Internetverbindung der ÖBB etabliert hatte, die naheliegenden Stichwörter.

      Ein Gasgebrechen am Dombrowski-Platz

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