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der steten Erwartung, gelegentlich der Polizei in die Hände zu fallen, trug er keine Papiere, die seine Identität bescheinigen konnten. Die Polizei kam. Er wurde in der Gesellschaft der andern auf einen Lastwagen verladen und blieb bis zum Morgen im Polizeipräsidium. Eine Nacht der Einsamkeit entrissen! Er sah den fahlen Morgen das Amtszimmer bestreichen, den alten Staub auf den grünen Pappendeckelbänden der Kartothek, die grindigen, verschwitzten und gesprungenen Mauern und den gelben Lichtfleck der nächtlichen Lampe, die einer Verordnung gemäß noch bis acht Uhr zu brennen hatte. Dann ging er durch die verworrenen Räume des großen Hauses. Er hielt sich vor dem Kasten mit den Photographien unbekannter Leichen auf, er sah die toten Gesichter, durch furchtbare Wunden entstellt, zertrümmerte Schädeldecken, abgerissene Augenlider, zerfetzte Oberlippen, enthüllte Kiefer, von Wasserratten angenagte Ohrmuscheln. So viele Menschen verschwanden also aus dem Leben – und niemand hatte sie gekannt.

      »Nicht wahr, ein schönes Familienalbum«, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihm. Es war Nikolai Brandeis.

      »Sind Sie auch verhaftet worden?« fragte Paul.

      »Ich bin freiwillig hierhergekommen, wenn auch nicht ganz freiwillig«, sagte Brandeis. »Unsereins hat so oft hier zu tun. Ich versichere Sie, es ist nicht angenehm. Aber ich habe die Gewohnheit, mir die Bilder der unbekannten Toten anzusehen, ehe ich eines dieser Polizeibüros betrete. Das tröstet mich, verstehen Sie. Das gibt mir ein wenig Mut. Hätten Sie gedacht, daß so viele sterben, nach denen kein Hahn kräht? Danach können Sie berechnen, wie viele von dieser Art leben und noch nicht gestorben sind. Sie torkeln so auf den breiten Landstraßen dahin, hinter ihnen der Tod, hinter ihnen der Tod … Aber nun bin ich erfrischt. Wollen Sie mich in jenes Amtszimmer begleiten? Ich brauche ein Visum.«

      Um sich nach Lettland zu begeben, wo Brandeis alte Geschäftsfreunde hatte, mußte er ein Visum haben. Er gehörte zu den dokumentenlosen Flüchtlingen und hatte einen provisorischen Paß für Staatenlose, also waren seine Reisen nicht leicht.

      »Wenn Sie mich begleiten«, sagte Brandeis, »werden Sie sehn, wie wenig ich mich von jenen Toten dort unterscheide. Kommen Sie.«

      Der Beamte saß hinter einer hölzernen Barriere und war, wie die Polizeibeamten der ganzen Welt, ein Freund überheizter Zimmer. Da er zur Fremdenpolizei gehörte, haßte er die Fremden. Als Brandeis »Guten Morgen« sagte, fragte der Beamte: »Was wollen Sie?«

      »Ihnen guten Morgen sagen«, antwortete Brandeis. »Ferner ein Aus-und Einreisevisum.«

      »Sie haben keine Aufenthaltsbewilligung!«

      »Ich habe um sie gebeten. Sie ist noch nicht erledigt.«

      »Dann können Sie wegfahren, aber nicht zurückkommen.«

      »Dennoch werde ich zurückkommen!« sagte Brandeis. Diesen Satz flüsterte er, als wäre es ein Geheimnis.

      Es ist eine Eigenschaft der Beamten, ihren Besucher erst nach dem dritten oder vierten Satz anzuschauen, als gingen sie von der Voraussetzung aus, daß alle Fremden gleich aussehen und daß es genügt, einen von ihnen zu kennen, um sich alle andern vorzustellen. Der Polizist sah jetzt erst auf. Er sah die mächtige Gestalt Brandeis’, den schweren Mantel, dessen Kragen hochgeschlagen war. Er erhob sich, wie um den Größenunterschied zwischen sich selbst und dem des Fremden zu verringern. Er wollte etwas sagen. Brandeis fing plötzlich laut zu sprechen an. »Sie sind Herr Kampe, nicht wahr? Ich werde von jetzt in drei Stunden wieder bei Ihnen sein.« Er wies mit dem Stock auf die Wanduhr. »Guten Tag.«

      »Sehen Sie«, sagte er zu Bernheim, »ich werde in drei Stunden das Visum haben. Und nur, weil ich ihm seinen Namen, der leicht zu erfahren ist, gesagt habe. Er hat wahrscheinlich nichts Schlimmes getan. Da ich aber seinen Namen kenne, fürchtet er, ich wüßte irgend etwas über ihn. Jeder Mensch hat Sünden.«

      »Und wenn Sie dennoch kein Visum bekommen?« fragte Bernheim.

      Brandeis zog einen dänischen Paß hervor. »Dann fahre ich mit dem.«

      »Falsch?«

      »Wie man’s auffaßt«, erwiderte Brandeis, »was ist richtig in dieser Welt? – Haben Sie über die Stoffe nachgedacht?«

      »Ja, das Geld, Herr Brandeis – –«

      »Nicht das Geld«, unterbrach Brandeis, »die Stoffe!« Und er hob seinen Stock gegen den Himmel, grüßte und ließ Bernheim stehn.

      Die durchwachte Nacht, die Bilder, die er gesehn hatte, das Gespräch Brandeis’ in der Polizei, die Erinnerung an das Geschäft, an das Geld, an Theodor: dies alles verwirrte Paul Bernheim. Je mächtiger ihm Brandeis erschien, desto schwächer kam er sich selbst vor. Weit im weißen Schnee, der während der Nacht gefallen war und den der Verkehr des Tages noch nicht vernichtet hatte, lag der Platz. Die Straßenhändler schrien, die Stadtbahnzüge dröhnten, Lastfuhrwerke ratterten. Zum erstenmal befand sich Paul Bernheim in dieser Gegend am frühen Vormittag. Er kannte sie nur von weichen, versöhnlichen Winternachmittagen her; die goldenen Lichter des großen Warenhauses, der Läden, der Untergrundbahn. Jetzt war der Platz übersichtlich, von einer grausamen Willkür gebildet, trotz dem weißen Schnee ahnte man den Schatten der großen, dunkelroten Polizei, und das Warenhaus, am Abend dank seiner Beleuchtung so nahe, war jetzt ferne zwischen dem gleichförmigen Weiß der Häuser. Es gab irgendeinen Zusammenhang zwischen diesem Platz und den Bildern der unbekannten Toten im Polizeigebäude. Als wäre die Untergrundbahn an dieser Stelle nicht ein Verkehrsmittel, sondern eine unterirdische, warme, schützende Zufluchtsstation, lief er die Stiegen hinunter. Er fuhr zum erstenmal nach langer Zeit mit vielen Menschen zusammen in einer Bahn. In jedem fremden Angesicht glaubte er Züge der töten Physiognomien wiederzufinden. Zu Hause legte er sich schlafen.

      Sonst vertrieb der Schlaf die beginnenden Schrecken eines Tages, und die künstlich eingeschobene Nacht bescherte dem erwachenden Bernheim einen veränderten, ja einen andern Tag. Heute war die List, mit der Paul das Unheil zu betrügen pflegte, vergeblich. Als er erwachte, fand er einen jener dicken Briefe seiner Mutter vor, die immer Unangenehmes enthielten. Denn seitdem Frau Bernheim angefangen hatte, auch am Porto zu sparen, schrieb sie nur bei unseligen Anlässen und dann sehr ausführlich, um den ganzen Wert der Briefmarke und den ganzen Umfang des Briefpapiers auszunutzen.

      Dem Brief der Mutter lag ein anderer bei, ein Brief von Theodor. Er brauchte Geld. Hätte Paul Bernheim in dieser Stunde ein besseres Gedächtnis besessen, so wäre ihm die Ähnlichkeit zwischen dem Briefstil Theodors und seinem eigenen aus der Oxforder Zeit nicht entgangen. »Liebe Mutter!« schrieb Theodor, »brauche unbedingt monnaie. Leben gesund, frische Luft, falscher Name. Gastfreundschaft enorm. – Denke an Dich und Paul oft, habe aber keine Zeit zu Gedankenaustausch. Brauche dringend monnaie. Vielleicht telegraphische Anweisung möglich. Post hierorts schafft langsam. Kuß. Dein Sohn Theodor.«

      Dazu schrieb Frau Bernheim einen gerührten Begleitbrief. Je länger Theodor in der Fremde war, je seltener sie von ihm auf vorsichtigen Umwegen ein Lebenszeichen bekam, desto edler, ärmer, hilfsbedürftiger sah sie ihn. Ja, sie, die während seiner Anwesenheit seine Freunde, seine geheimnisvollen Ausflüge und Bahnfahrten, seine Broschüren, seine Zeitungen mit einem furchtsamen Grauen beobachtet hatte, sie begann jetzt, »die Regierung« wie einen persönlichen Feind zu hassen und »die Juden« für Theodors »Unglück« – so nannte sie seine Flucht – verantwortlich zu machen. »Er leidet für die Politik!« Diese Formel hatte ihre mütterliche Eitelkeit ihr eines Tages geliefert. Aber immerhin, als Paul seiner Mutter schrieb, daß er kein Geld geben könne, da er Theodors wegen schon eine so hohe Schuld auf sich genommen habe, und es wäre doch einfach, den Mietpreis für Theodors Zimmer jeden Monat nach Ungarn zu schicken, erwiderte Frau Bernheim entrüstet, daß sie nicht daran denke, noch mehr Opfer für ihre Kinder zu bringen. »Ich habe Euch meine ganze Jugend geopfert«, schrieb sie. Sie glaubte manchmal wirklich, daß sie ohne ihre Söhne nur ganz langsam alt geworden wäre. Blut sei kein Wasser, schrieb sie ferner, und ein Bruder müsse dem andern helfen.

      Sie sammelte indessen Geld für ihre alten Tage. Sie hatte einen Koffer voller Papierscheine, die immer wertloser wurden und an deren Gültigkeit sie unerschütterlich glaubte. Vergeblich waren Merwigs und Pauls Bemühungen. Da sie einmal mit der Kriegsanleihe recht behalten hatte,

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