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Gegen die Spielregeln. Philea Baker
Читать онлайн.Название Gegen die Spielregeln
Год выпуска 0
isbn 9783948483036
Автор произведения Philea Baker
Жанр Языкознание
Серия Baker Street Bibliothek
Издательство Bookwire
»Waren Sie bei dem Kaiserschnitt dabei?«, fragte er in die Stille des Raumes hinein, ohne sie anzusehen.
»Nein. Ich war bei Gladys Temple. Sie ist gerade gestorben.«
Filtons Wangenmuskeln spannten sich an. Er hatte Gladys in dieser Woche mehrfach untersucht, kannte sie. Eine Weile saßen sie da und sagten nichts. »Man hat also einen Kaiserschnitt gemacht bei Mrs. Thornsby?«, nahm Alessa den Faden wieder auf.
»Das hatte man vor. Ich habe es nur nebenbei gehört.« Filton begann unruhig auf seinem Stuhl herumzurutschen, dann sprudelten die Worte plötzlich aus ihm hervor: »Ich habe den Kutscher nicht retten können … es war …« Er schlug sich die Hände vors Gesicht und schluchzte leise auf. Alessa erhob sich und setzte sich zu ihm. Sie wartete, bis er sich etwas beruhigt hatte. Mark nahm schließlich die Hände hinunter und sah sie an. Seine Augen waren stark gerötet. »Ich habe mich so hilflos gefühlt.« Er atmete lautlos durch die geöffneten Lippen, sein Blick schien durch Alessa hindurchzusehen ins Nichts.
»Das kann ich verstehen, so erging es mir eben auch bei Gladys«, versuchte Alessa ihn aufzufangen.
Filton sah sie direkt an. Eine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Schließlich räusperte er sich. »Als ich Sie hier sitzen sah, dachte ich, Sie wären bei diesem Kaiserschnitt dabei gewesen und es sei etwas Schlimmes passiert. Das letzte Mal, als Sie bei einem Kaiserschnitt dabei waren, sahen Sie aus, als hätten sie den leibhaftigen Tod vor sich. Und das Mal davor sind Sie sogar fortgelaufen.«
Sie schlug die Augen nieder. »Meine Mutter starb bei einem Kaiserschnitt.« Sie schluckte. Nie zuvor hatte sie im Krankenhaus mit jemandem darüber gesprochen. »Mein Bruder hat es ebenfalls nicht überlebt.«
Marks Blick ruhte unverwandt auf ihr. Sie konnte nichts dagegen tun, Tränen rannen erneut ihre Wangen hinunter. Mark legte seine Hand sanft auf die ihre. Sie ließ es geschehen, denn es fühlte sich gut an. »Ich finde Sie unglaublich tapfer, Ms. Arlington.«
Sie versuchte zu lächeln. »Nicht wirklich …«
»Möchten Sie mit mir darüber sprechen?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Filton drückte ihre Hand. Das Geräusch von Schritten im Flur war zu vernehmen, entfernte sich dann aber wieder.
»An dem Tag, an dem meine Mutter starb, zog mein Vater sich in die Bibliothek zurück.«
Es war ihr, als wollten die Worte einfach heraus, als könne sie gar nichts dagegen tun. »Er verlangte, dass niemand ihn stören möge. Im Haus herrschte völlige Stille. Der Arzt war gegangen und das Personal hatte sich zurückgezogen. Durch den Türspalt zur Bibliothek sah ich, dass mein Vater an seinem Schreibtisch saß und weinte. Ich hatte meinen Vater noch nie weinen sehen und es war … beängstigend …« Sie holte Luft. »Niemand merkte, dass ich das Zimmer, in dem meine Mutter lag, aufsuchte.« Alessa wurde ganz heiß. Es kam ihr seltsam vor, dass sie mit Mark Filton darüber sprach – sie hatte sich doch geschworen, mit niemandem darüber zu reden. Warum tat sie es nun? Zudem kannte sie Mark Filton doch kaum. Oder lag es gerade daran? Sie holte erneut Luft, bevor sie weitersprach. »Ich vergesse niemals, wie sie aussah.« Marks Hand lag noch immer fest auf der ihren. Die Wärme, die von ihm ausging, tat ihr unendlich gut. »Simone, das Dienstmädchen, fand mich bei ihr. Sie hat mich auf mein Zimmer geführt und hat in dieser Nacht bei mir geschlafen. Als ich ihr sagte:›Ich frage mich, wohin meine Mutter und mein Bruder gegangen sind‹, antwortete sie mir: ›Vielleicht hat sie ein Engel an die Hand genommen.‹«
Mark Filton lächelte. Alessa fühlte sich seltsam erleichtert. Das hatte sie nicht erwartet.
»Das ist ein schönes Bild mit diesem Engel … Ich würde das auch gern glauben. Es würde so vieles erleichtern. Ich … ich wünschte, ich könnte mir alles, was mein Herz erschwert, von der Seele reden wie Sie …«
»Warum tun Sie es nicht einfach?«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Das … das ist unmöglich …«
Die Tür wurde unversehens geöffnet. John Croft steckte den Kopf zu ihnen herein und sah sie beide erstaunt an. Sein Blick blieb auf ihren Händen haften.
»Ah, hier bist du, Mark. Du wirst gebraucht. Mr. Kronsberg ist bereit für die Amputation.«
Mark löste die Hand von der ihren und stand auf. »Ich komme«, sagte er, John Croft zugewandt.
Nachdem Filton gegangen war, trat John Croft in den Raum. Er setzte sich neben sie und sein wunderbarer, wohlvertrauter Geruch umfing sie. »Alessa, ich habe gehört, du warst gestern im Haus und hast dich nach mir erkundigt. Ich wollte fragen, ob das einen bestimmten Grund hatte …«
Alessa spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Ich war hier, um einige Akten zu studieren. Ich hatte nur interessehalber gefragt, ob du da seiest.«
John Croft sah sie intensiv an. Es schien ihr, als sei für ihn die Frage unbeantwortet geblieben, aber er drang diesbezüglich nicht weiter in sie. »Warum bist du hier?«
»Eine Patientin ist gestorben. Ich wollte kurz Luft holen. Es geht mir soweit gut.«
»Wirklich?«
»Ja.« Sie stand auf und verabschiedete sich