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der untergehenden Sonne die Regentropfen wie Kristalle. Die feuchte Erde dampfte. Spatzen, Schwalben, Mauersegler hüpften laut zwitschernd umher, sammelten Würmer und badeten flügelschlagend in den Pfützen. Wie friedlich die Welt jetzt wieder wirkte!

      Matthias Brunner stand am Fenster der Schwarzwaldstube und sah hinaus. Lump saß zu seinen Füßen. Nach dem Gewitter war er unter der Ofenbank wieder hervorgekrochen.

      Immer und immer wieder hatte Matthias den Laborbefund seiner Patientin gelesen. Danach gab es keinen Zweifel. Sophie hatte tatsächlich eine gefährliche Bluterkrankung. Aber über den Typ dieser Krankheit, den sie ihm genannt hatte und der Menschen über zwanzig nur sehr selten befiel, gaben die Werte keine Auskunft. Darüber konnte nur eine Knochenmarkprobe Auskunft geben. Er hatte seine Patientin im gegenwärtigen Zustand nicht mit weiteren Fragen quälen wollen. Aber sobald sich Sophie wieder besser fühlte, würde er mit ihr sprechen –, zumal er den Eindruck gewonnen hatte, dass sie sich in ihr Schicksal ergeben hatte. Und das durfte nicht sein.

      Er griff sich an den Kopf.

      Als sich die Stubentür öffnete, drehte er sich um.

      »Und? Wie geht es ihr?«, erkundigte er sich.

      »Sie war kurz wach«, berichtete seine Frau.

      Ulrike Brunner war früher Krankenschwester gewesen und stand in Notfällen auch heute noch ihrem Mann und Schwester Gertrud in der Praxis zur Seite. »Ich habe ihr etwas zu trinken gegeben und gewartet, bis sie wieder eingeschlafen ist. Gertrud ist gerade wiedergekommen. Sie bleibt in den nächsten Stunden bei ihr.«

      Ulrike ließ sich auf die Eckbank fallen. Beide schwiegen. Sie sahen hinaus in den hereinbrechenden Abend. Die Standuhr in der Ecke tickte laut. Überlaut in ihren Ohren.

      »Ich kann es nicht verstehen«, brach die Arztgattin schließlich das Schweigen. »Eine so junge Frau …«

      »Krankheit fragt nicht nach dem Alter«, antwortete Matthias.

      »Trotzdem.« Ulrike reckte das Kinn in die Luft, wie immer, wenn sie etwas nicht annehmen wollte.

      »Würde das Blutbild von Sophie das eines Kindes sein, gäbe es keinen Grund zur Verzweiflung«, sprach er weiter. »Natürlich ist eine solche Erkrankung immer für alle ein großer Schock. Aber während Kinder schon nach der ersten Behandlung fast alle geheilt werden können, sind die Chancen bei Erwachsenen wesentlich schlechter.« Mit besorgter Miene rieb er sich das Kinn. »In Sophies Fall kommt noch etwas erschwerend hinzu: In ihrem Blut wurden laut Laborbericht mehr als fünfundzwanzigtausend weiße Blutkörperchen pro Mikroliter ausgezählt, was die Heilungschancen deutlich heruntersetzt.«

      »Was hat denn die Knochenmarkuntersuchung ergeben?«, erkundigte sich Ulrike in energischem Ton. »Eine Biopsie ist doch normalerweise der nächste Schritt, um eine solche Diagnose zu erhärten.«

      Der Landarzt seufzte. »So weit sind wir im Gespräch noch nicht gekommen. Sie war zu schwach. Morgen werde ich mit ihr reden.«

      Er spürte den forschenden Blick seiner Frau.

      »Dir geht doch etwas durch den Kopf«, sagte sie geradeheraus.

      »Nun ja …«, begann er zögernd. »Ich hatte bis jetzt nicht den Eindruck, in Sophie Wittmer eine Patientin mit dieser Erkrankung vor mir zu haben. Es fehlen bei ihr maßgebliche Symptome. Ihre auffällige Blässe passt ins Bild. Thomas erzählte mir, dass sie unter starker Erschöpfung leidet, Schwindel, Kopfschmerzen; dass sie in den letzten Monaten häufig erkältet war, was für ein schwaches Immunsystem spricht. Aber diese Erscheinungen können auch Hinweise auf ein anderes Krankheitsbild sein. Bei jedem Typ dieser Bluterkrankung zeigt der Patient in der Regel darüber hinaus eine auffällige Kurzatmigkeit und eine starke Blutungsneigung, die ich bei Sophie nicht festgestellt habe. Ihre Wunden sind schnell verklebt. Sie hat auch keinerlei blaue Flecken, so weit ich das bei der Untersuchung erkennen konnte.«

      »Du meinst …« Voller Hoffnung sah seine Frau ihn an.

      »Ich meine noch gar nichts, Ulrike«, erwiderte er sachlich. »Morgen werde ich mehr sagen können.«

      Wieder schwiegen sie eine Weile.

      »Ein so junger Mensch«, murmelte Ulrike. »Weiß Thomas es überhaupt schon?« Fragend sah sie ihren Mann an.

      »Sie war auf dem Weg zu ihm und ist dabei verunglückt.«

      »Du musst ihm Bescheid sagen.« Sie sprang auf, hielt ihm das tragbare Telefon entgegen.

      Er schüttelte den Kopf. »Ich habe es ihr versprochen. Sie will es ihm selbst sagen.«

      Ulrike setzte sich wieder. Er nahm ihr gegenüber am Stubentisch Platz. Ihre Hände fanden sich auf der Mitte der geblümten Decke.

      »Ach, Ulrike«, murmelte Matthias. »Das sind die schlimmen Stunden in meinem Beruf. Wenn ich Menschen helfen kann, empfinde ich diesen Erfolg jedes Mal wie ein Geschenk einer höheren Macht. Für meinen Patienten wie für mich. Denn letztendlich liegt die Heilung nicht in meiner Hand. Aber wenn ich sehe, dass ich …«

      »Matthias.« Seine Frau richtete sich auf und entzog ihm gleichzeitig ihre Hand. »Was sagst du immer zu mir? Man soll die Hoffnung nie aufgeben. Das ist dein Lebensmotto, das schon vielen Trost gegeben hat. Jetzt gib du die Hoffnung nicht auf. Tu was!«

      Er lächelte sie an.

      Das liebte er so an ihr. Wenn er den Mut verlor, baute sie ihn wieder auf.

      »Du übersiehst in diesem Fall, dass man nicht alles mit seinem Willen beeinflussen kann«, musste er ihr trotz allem antworten. »Ich bin Mediziner und weiß die Werte einer Blutuntersuchung zu lesen.«

      »Dennoch«, erwiderte seine Frau mit fester Stimme. »Wir müssen jetzt Schritt für Schritt vorgehen. Im Moment denke ich an Thomas. Er wird erfahren, dass Sophie einen Unfall hatte. In Ruhweiler spricht sich alles schnell herum. Einer der Polizisten muss nur heute Abend im Gasthaus von dem Unglück erzählen. Ich meine, er sollte nicht morgen von einem seiner Kunden erfahren, dass die Frau, die er liebt, hier bei uns im Krankenzimmer liegt. Du musst es ihm sagen.«

      Matthias hob den Kopf und sah sie an, als wäre er gerade in die Wirklichkeit zurückgekehrt. »Du hast recht. Ich werde ihn morgen früh sofort anrufen. Heute Abend wäre Sophie ohnehin noch zu schwach, um Besuch zu empfangen.«

      *

      »Ich muss sofort zu Frau Wittmer.« Mit diesen Worten stürmte Thomas Seeger am nächsten Morgen in aller Früh die Landarztpraxis.

      »Moment mal, junger Mann«, hielt Schwester Gertrud ihm ent­gegen. Sie baute sich vor ihm auf. »Die Patientin braucht unbedingt noch Ruhe …«

      »Guten Morgen, Thomas«, sagte da Matthias Brunner vom Ende des Flurs. Er stand in der Sprechzimmertür. »Ist schon gut, Gertrud. Ich mache das«, fuhr er augenzwinkernd zu seiner Sprechstundenhilfe fort, die ihm daraufhin einen pikierten Blick zuwarf, aber ohne ein weiteres Wort in dem Praxislabor verschwand.

      »Ich habe gerade an der Tankstelle erfahren, dass Sophie hier bei Ihnen ist. Der Unfall gestern. Die Verunglückte ist doch Sophie, oder?« Die Aufregung stand dem jungen Mann auf den Zügen geschrieben.

      Matthias legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. »Komm mit ins Sprechzimmer«, bat er ihn. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sprach er weiter: »Ja. Frau Wittmer war auf dem Weg zu dir. Den Unfallhergang hat man dir wahrscheinlich schon erzählt.«

      »Wie geht es ihr?«

      »Ihre Werte sind stabil. Sie hat eine schwere Gehirnerschütterung, kleine Blessuren, eine Rippenprellung, aber bis jetzt gibt es keine Komplikationen.«

      »Kann ich zu ihr?«

      Matthias Brunner zögerte. »Du wirst bestimmt verstehen, dass ich sie erst fragen möchte. Sie ist noch ziemlich mitgenommen. Der Schock …«

      Thomas griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Als der Tankwart es mir eben erzählte, dachte ich, ich werde verrückt. Ich habe sie gesucht …« Er erzählte dem Arzt von seiner Fahrt nach Karlsruhe. »Der

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