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      Der Junge, der Ananda vertraut hatte und zwei Mal verraten wurde, dessen Leben gefährdet wurde durch diejenigen, denen Ananda vertraut hatte.

      Im Ärmel seiner Robe versteckt spannte sich einer seiner Finger ganz leicht an. Ananda fühlte, wie sein Puls um einen Schlag anstieg, sein Atem kürzer wurde. Er beobachtete dies ganz ruhig, ohne es zu beurteilen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf das, was sein Körper ihm über seine Emotionen offenbarte, über seine Haltung zu dem mehrfachen Verrat.

      Du wirst nicht für deine Wut bestraft werden, sagte Buddha einst. Du wirst von deiner Wut bestraft werden.

      Es verblüffte Ananda, wie wenige dies doch verstanden. Er machte einen weiteren leichten Atemzug, entspannte sein Gesicht, ließ das sanfte Lächeln die tieferen Schichten seines Gehirns und seines Friedens inspirieren.

      Die Vergangenheit war vergangen.

      Der Junge war wieder aufgetaucht. Er war am Leben und vermutlich war er frei, all der Bemühungen so vieler Menschen zum Trotz. Doch er war wieder aufgetaucht an einem Ort und in einer Art und Weise, die die Welt ohne jeden Zweifel erneut verändern würde.

      Alles verändert sich, sagte Buddha einst. Nichts bleibt ohne Veränderung.

      So sei es.

      Der Junge ist wieder aufgetaucht. Sowohl aus eigenem Antrieb als auch aufgrund des Gesuches seiner Regierung musste Ananda ihn ausfindig machen.

       5| DIE GELEGENHEIT

      

      Samstag, 03.11.2040 Der Avatar starrte durch Lings Augen aus dem Fenster des Hochhauses hinaus, in dem sie mit Chen gewohnt hatte, auf das Spektakel von Schanghai, während er sich kraftlos ins Leben zurück kämpfte. Ein feiner Nieselregen fiel aus den heute verdächtig tief hängenden Wolken. Unter ihnen bewegten sich ein paar Autos auf den Straßen dieses exklusiven Viertels von Pudong. Die Lichter in den Fenstern waren wieder an. Das unmenschlich perfekte, zwanzig Stock hohe Antlitz Zhi Lis zwinkerte und schmollte erneut von der Fassade des Wolkenkratzers ihr gegenüber herunter und hielt für andere Menschen unzählige Waren zum Kauf bereit.

      Es schwebte sogar wieder eine Handvoll rot leuchtender Überwachungsdrohnen über ihnen, die via Schienenverkehr von Suzhou eingeführt wurden. Doch hinter dieser ganzen Fassade lagen Furcht und Angst.

      Genau wie bei ihr selbst. All die Monitore. All die Jäger. So viele gezähmte künstliche Intelligenzen und fremdartige, unmenschlich entwickelte Codes, die sich frei im lokalen Netz bewegten. So viel Software und Hardware, die dazu diente, die Ursache des Desasters zu finden, das vor zwei Wochen über Schanghai hereingebrochen war.

      Die dazu diente, sie zu finden.

      Ich bin alles, das zwischen dieser Welt und der Dunkelheit steht, sagte sie zu sich selbst. Wenn ich sterbe, stirbt der einzig wirkliche Posthumane, der sich auf dieser Erde befindet. Ich werde nicht versagen.

      Es war an der Zeit, mit dem Plan voranzukommen. Zeit, das Chaos zu schaffen, das die Weltmächte ablenken und ihr den Raum verschaffen würde, ihr größeres Selbst wiederherzustellen und die posthumane Transition einzuleiten.

      Zunächst musste sie eine Bestandsaufnahme ihrer Ressourcen machen. Su-Yongs Avatar machte sich daran, sorgfältig das Netz zu durchsuchen, die Jäger auszutricksen, immer wieder auf ihren Pfaden zurückzukehren, jeden ihrer Schritte zu kaschieren und vorher dreifach zu prüfen. Sie war sich bewusst, dass auch nur der kleinste Ausrutscher das Ende bedeuten könnte.

      Bedächtig, äußerst bedächtig suchte sie nach dem Rest ihrer Kinder.

      Von einem geheimen Komplex innerhalb des Dachang Militärflugplatzes aus zapfte sie sorgfältig einige hundert Videoausschnitte von den am wenigsten bewachten Überwachungsmonitoren ab. Sie ließ sich einige Minuten Zeit dafür und war darauf bedacht, keinen der Monitore auszulösen, die unübliche Vorgänge im Netzwerk beobachteten.

      Die Aufnahmen bestätigten, was sie vermutet hatte. Bai und seine Brüder waren hier. Die Konfuzianische Faust. Klonsoldaten. Jeder von ihnen tödlicher als jedes menschliche Wesen, das jemals geboren worden war.

      Soweit Chen informiert war, standen sie unter Bewachung oder waren auf den Verdacht hin verhaftet worden, dass sie hinter dem Anschlag auf Schanghai steckte.

      Das Bildmaterial zeigte ihr, dass ihre Waffen konfisziert, sie hinter verstärkten Titantüren eingepfercht waren und von bewaffneten menschlichen und automatisierten Wachposten bewacht wurden.

      Eingepfercht wie Tiere, dachte der Avatar, wie die Sklaven, die sie waren, bevor ich sie befreite.

      Sie würde diese Männer brauchen. Sie würde sie in Freiheit brauchen. Sie zog sich zurück, raus aus Dachang, hinein in die zivile Infrastruktur drumherum. Dann errichtete sie ihre eigenen Überwachungssysteme, die beobachteten, wer kam und wer ging. Systeme, die nach einem Weg hinein suchen sollten, nach einem Weg, diesen Ort zu unterwandern und ihre Kinder zu befreien.

      Ihre Schüler und Angestellten waren als Nächstes an der Reihe. Diejenigen, deren Bewusstseine sie selbst um die Neurotechnologie erweitert hatte. Sie fand sie. Einen nach dem anderen. Tony Chua, der aus Kanada zurückgekehrt war, um die Position des leitenden Wissenschaftlers in ihrem Team einzunehmen. Jiang Ma, die hochintelligent sein wird, wenn sie mit fünfzehn das College beendet hat. Sie erinnerte Su-Yong an eine jüngere Version ihrer selbst, die mit achtzehn ihren Doktortitel erlangt hatte. Fang Tseng, der sich von einer aggressiven und eingebildeten Persönlichkeit hin zu einem bescheidenen, ehrfürchtigen Menschen entwickelt hatte, seit sie die Nanomaschine in sein Gehirn injiziert und ihm gezeigt hatte, was tatsächlich im Bereich des Möglichen lag.

      Sie fand sie alle. Und andere.

      Sie wurden beobachtet, alle von ihnen. Mit direkten Kanälen zu ihren Netzwerkanschlüssen. Physische Überwachungsapparate an ihrer Kleidung und in ihren Wohnungen. Würde sie versuchen, jemanden von ihnen zu kontaktieren, war es mehr als wahrscheinlich, dass das bemerkt werden würde.

      Weitere Vergehen, für die der alte Mann, der dieses Land regierte, verantwortlich gemacht werden würde. Unwillkürlich ballten sich die Hände ihrer Tochter zu Fäusten.

      Sie würde einen anderen Weg finden müssen. Sie ging tief in sich, fand die fraktal komprimierten Pläne, die sie erstellt hatte. Das Meta-Modell mit seinen Wahrscheinlichkeitsdiagrammen und komplexen Verbindungsgeflechten umzusetzender Verläufe, die ihr höheres Selbst innerhalb der letzten Stunde aufgestellt hatte.

      Sie ließ es in sich heranwachsen, ließ sich komplett davon einnehmen, die Welt um sie herum aufsaugen, absorbierte die Informationen aus der Flut an Daten und Nachrichten der Welt und aktualisierte die tausend Zukunftsprognosen des Modells um die jüngsten Informationen.

      Ein äußerst komplexes Geflecht von miteinander verbundenen Linien erfüllte ihr Sichtfeld und zeigte ihr die Permutationen der Realität auf, als sie nach den ausschlaggebenden Knoten suchte, nach den Kernpunkten im Netzwerkgraphen der menschlichen Gesellschaft. Dort wo die größte Dichte an Linien zusammenkam, dort konnte eine maximale Störung erzielt werden.

      Die Anspannung war überall zu spüren. Der Angriff auf Schanghai. Der Putsch in China, der Minister für Nationale Sicherheit Bo Jintao und die Hardliner an die Macht brachte. Die Zusammenkunft der Liberalen und Intellektuellen und das Murren unter den Studenten. Die wachsenden Spannungen zwischen Indien und dem Kopenhagener Abkommen, die vermutlich durch Kaden Lanes Ankunft dort einen Höhepunkt erreichen würden. Die brodelnde Unruhe drohte in Protesten über das Zensurrecht in Russland auszubrechen, über die Rechte der Frauen in Ägypten, über die Energiekosten in Brasilien. All diese Unruhen könnte sie ausnutzen. All diese Unruhen würde sie ausnutzen.

      Aber das bei weitem explosivste Pulverfass stellten die Vereinigten Staaten dar. Eine riesige Kirche war komplett niedergebrannt. Ein beliebter religiöser Anführer und ein Senator waren gleichzeitig ermordet worden. Die US Regierung selbst schürte Anschuldigungen, dass Terroristen

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