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skurrile Blüten: Beispielsweise wurden Tonnen von Lupinen-Samen (unter Mithilfe ehemaliger Grenzschützer!) im vormaligen Todesstreifen am Brandenburger Tor ausgesät; die (Verkehrs-)Polizei hatte kaum noch etwas zu sagen, selbst Bankräuber entkamen, weil sie (noch nach der „Wiedervereinigung“) bestenfalls halbherzig von den verunsicherten Vopos verfolgt wurden.

      „Die Polizei war überfordert, ihre Ausstattung noch auf dem Niveau der DDR-Volkspolizei. Mit altersschwachen Trabbis jagten die ehemaligen Volkspolizisten nun Bankräubern hinterher, die längst über PS-starke Westautos verfügten. Als Handlanger des alten Regimes wurden sie beschimpft, bedroht und ausgelacht“ 4.

      Abzocker, Glücksritter, Betrüger, Kriminelle aller Art nutzten den Zustand weitgehender Gesetzlosigkeit auf ihre Art, der Schwarzmarkt boomte (ähnlich der Zeit nach dem 2. Weltkrieg), Zigarettenschmuggler machten das große Geschäft:

      „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – nach d[ies]er Devise verfährt die DDR-Polizei, um Konfrontationen mit den Bürgern zu vermeiden. Die Knüppelgarde von einst, die unnachsichtig jede Unbotmäßigkeit gegenüber dem SED-Regime ahndete, macht kaum Anstalten, das Recht durchzusetzen ... Als nachts ein Schlägertrupp im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain Haustüren aufbrach, in die Flure urinierte, an parkenden Autos Antennen abbrach und Bewohner bedrohte, riefen Bürger vergebens nach Schutzleuten … Eine ´Identitätskrise der Volkspolizei´ erkannte DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel ... Die Polizei sei in der Vergangenheit oft ´für sachfremde Aufgaben eingesetzt´ worden, nach der Wende in der DDR sei daher eine ´Verunsicherung´ entstanden. Den Polizisten, so Diestel entschuldigend, müsse erst wieder ´das notwendige Selbstbewußtsein zurückgegeben´ werden“ 5.

      Bewohner des Dresdener Stadtteils Neustadt erklärten ihren Bezirk zur „Bunten Republik Neustadt (BRN)“, markierten die „Staatsgrenze“ mit einem weißen Strich auf dem Pflaster und führten die „Neustadtmark“ als neue Währung ein.

      „Überall kamen Bürger, die 40 Jahre gehorchen sollten, plötzlich auf kreative Ideen. Schankerlaubnis? Gewerbegenehmigung? Lebensmittelaufsicht? Buchhaltung und Steuer? Wen interessiert das noch. Wer jahrelang gegängelt wurde, will jetzt einfach mal machen.

      Einen eigenen Fernsehsender ohne Lizenz gründeten einige Bewohner von Leipzig. Sie hatten genug von der jahrzehntelangen Propaganda im Staatsfernsehen und wollten lieber etwas Eigenes starten, als auf die öffentlichen Rundfunkanstalten des Westens zu warten. Anfangs gab es nur eine Videokamera, einen VHS-Rekorder und ein kleines, improvisiertes Studio direkt neben der alten SED-Stadtleitung. Den TV-Pionieren gelang es, mit ihrem ´Kanal X´ auf Sendung zu gehen.“ [S. auch 6.]

      Legal, illegal, scheißegal: Der alte Sponti-Spruch des Westens – den wir, Liebster, seiner-, will meinen unsrerzeit so oft auf den Lippen hatten – wurde auch im Osten zur Parole und nicht selten zur Realität.

      Wiewohl es anarchistische Strömungen in der DDR – namentlich wegen ihrer antiautoritären und antistalinistischen Positionen – seit Beginn des „realsozialistischen“ der beiden deutschen Bruderstaaten besonders schwer hatten: Im Sinne Lenins galt Anarchismus als eine „kleinbürgerliche pseudorevolutionäre politische und ideologische Strömung, die jede staatliche und politische Organisation prinzipiell ablehnt und objektiv der Spaltung der antiimperialistischen Bewegung und den Interessen des Monopolkapitals dient” 7.

      PARERGA UND PARALIPOMENA

       Ausführungen zu Fußnote 3:

      Rede von Christa Wolf am 4. November 1989 (auf dem Berliner Alexanderplatz, wo mehrere Hunderttausend, vielleicht gar eine Million DDR-Bürger auf der größten Demonstration, die je in der DDR stattfand [und die nicht von der Partei, vielmehr von Mitarbeitern der Ostberliner Theater organisiert wurde], für ihre verfassungsmäßig garantierten Rechte, für Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, auch für das Recht auf freie Reise [ins westliche Ausland] eintraten [und auch Adlati des Systems wie beispielsweise Markus und eben Christa Wolf, Heiner Müller, Günter Schabowski, Lothar Bisky und Gregor Gysi – die, Bisky und Gysi, später bei der PDS resp. der Linken Heimat und Brot fanden – auftraten und meist gnadenlos ausgepfiffen wurden; Bärbel Bohley, s. DER SPIEGEL 45/1994 vom 07.11.1994, 40-54: „… vor allem als Markus Wolf sprach. Als ich sah, daß seine Hände zitterten, weil die Leute gepfiffen haben, da sagte ich … zu Jens Reich: So, jetzt können wir gehen, jetzt ist alles gelaufen. Die Revolution ist unumkehrbar“]):

      „Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zurufen: Demokratie jetzt oder nie!

      Und wir meinen Volksherrschaft, und wir erinnern uns der steckengebliebenen oder blutig niedergeschlagenen Ansätze in unserer Geschichte und wollen die Chance, die in dieser Krise steckt, da sie alle unsere produktiven Kräfte weckt, nicht wieder verschlafen …

      Diese Wochen, diese Möglichkeiten werden uns nur einmal gegeben – durch uns selbst … Vorschlag für den Ersten Mai: Die Führung zieht am Volk vorbei. Unglaubliche Wandlungen. Das ´Staatsvolk der DDR´ geht auf die Straße, um sich als ´Volk´ zu erkennen. Und dies ist für mich der wichtigste Satz dieser letzten Wochen – der tausendfache Ruf: Wir – sind – das – Volk!“ (https://www.dhm.de/archiv/ausstellungen/4november1989/cwolf.html, abgerufen am 25.09.2019)

       Ausführungen zu Fußnote 4:

      MDR-Zeitreise: Was wurde aus der Volkspolizei? Im Herbst 1989 hatten Volkspolizisten noch den Befehl, gegen friedliche Demonstranten vorzugehen. Ein Jahr später schworen viele von ihnen einen Eid auf das deutsche Grundgesetz. Eine unglaubliche Geschichte, https://www.mdr.de/zeitreise/schwerpunkte/was-wurde-aus-der-volkspolizei-100.html, zuletzt aktualisiert am 06. 05.2019 und abgerufen am 25. 09.2019:

      „In ´Heimarbeit´ hatten die Polizisten zum Stichtag 3. Oktober 1990 die Hoheitszeichen der DDR von ihren Mützen und den Schriftzug ´Volkspolizei´ von ihren Jacken entfernen müssen. Jetzt herrschte ein heilloses Durcheinander. Nach Feierabend paukten sie die neuen Gesetze, die von nun an Grundlage ihrer polizeilichen Arbeit waren ...“

       Ausführungen zu Fußnote 5:

      DER SPIEGEL 25/1990 vom 18.06.1990, 59-66: Das Recht ist nur Pappe. Unter den Augen der Polizei machen Schwarzhändler auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz ihre krummen Geschäfte. Kein Ordnungshüter schreitet ein:

      „Nicht nur die Polizei leidet unter dem Autoritätsschwund und versucht, ihn durch besonders lasche Tätigkeit wettzumachen. Auch die Justiz fällt durch außergewöhnliche Milde und Nachsicht auf. ´Staatsanwälte´, lästert der Ost-Berliner Rechtsanwalt Friedrich Wolff …, einer der Anwälte des vormaligen DDR-Regenten Erich Honecker, ´stellen zum Teil lächerliche Strafanträge´, und viele Richter ´trauen sich nicht mehr, die Leute ... zu verdonnern … Die hatten schon vorher keinen Arsch in der Hose, heute erst recht nicht mehr´ …

      Die Zahl der Diebstähle beispielsweise ... habe sich seit der Wende ´verdrei- bis verfünffacht, auffällig sei die Zunahme von Gewaltdelikten. Doch die Räuber und Schläger lachen sich ins Fäustchen.

      Staatsanwälte machen keinem mehr Angst. 40 Jahre war die Justiz Disziplinierungsinstrument in der Hand von Stasi und Partei. Nun, da niemand mehr vor diesen Mächten Furcht haben muß, hat auch keiner mehr Respekt.

      Hinzu kommt ein eklatanter Personalmangel: Von den rund 1200 Planstellen für Staatsanwälte in der DDR sind derzeit etwa zehn Prozent nicht besetzt – die bisherigen Amtsinhaber wurden wegen früherer Tätigkeit im politischen Strafrecht in den Ruhestand geschickt oder quittierten den Dienst aus eigener Einsicht.

      Ähnlich ist die Lage bei den derzeit 1385 Richtern an Kreis- und Bezirksgerichten: Etwa jeder elfte ist seit der Wende ausgeschieden …

      ´Die Verfolgung allgemeiner Straftaten ... wird schwierig, weil wir der Täter immer weniger habhaft werden können.´ Immer häufiger fallen Prozesse aus, weil die Angeklagten einfach nicht vor Gericht

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