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      Mila nahm seine Hand und schüttelte sie. »Mila.«

      »Komischer Name«, sagte Eric.

      »Nur für französische Ohren. Mit vollem Namen heiße ich Émilie Antoinette.«

      Warum erzählte sie ihm das? Sie hatte diesen Namen schon immer gehasst. Er passte überhaupt nicht zu ihr, klang viel zu groß für sie. Zu sehr nach langen Röcken, hohen Absätzen und steifen Miedern dafür, dass sie am liebsten Jeans und flache Ballerinas trug.

      Diesmal grinste Eric nicht, sondern lächelte schwach. Es ließ seine Züge weicher erscheinen. »Du bist keine Französin«, sagte er ihr auf den Kopf zu.

      »Hört man das?«

      »Ein bisschen. Aber dein Französisch ist gut. Fehlerfrei.«

      »Ich bin Französin«, sagte sie. »Aber ich lebe mit meiner Mutter in Deutschland. Schon seit meiner Geburt.«

      Er nickte. »Das erklärt es. Warum bist du hier?«

      »Ich bin zu Hause abgehauen.«

      Er lachte auf. »Glaube ich nicht!«

      Sie verdrängte den Gedanken daran, dass sie mittlerweile vermutlich die zehnte oder zwölfte Nachricht von ihrer Mutter auf dem Handy hatte. Und ihr schlechtes Gewissen deswegen verdrängte sie ebenso. Schließlich hatte sich ihre Mutter das selbst zuzuschreiben.

      »Und ich glaube dir nicht, dass du Baudelaire zitieren kannst«, sagte sie zu Eric.

      Er nahm die Herausforderung an. Großspurig warf er sich in Positur, spreizte die Beine leicht. Mila musste ein Grinsen unterdrücken. Sosehr Eric sich auch bemühte, cool zu wirken, es schimmerte etwas Verletzliches durch seine Fassade, das sie unerwartet anziehend fand. Er suchte ihren Blick, legte eine Hand an sein Herz und fing an zu deklamieren:

       »Herbstende! winter! frühling mit schlammigem eise!

       Ihr schläfernden zeiten des jahrs – ich liebe und preise

       Was mein gemüt und meine gedanken umgab

       Mit dunstigem leintuch und mit verschwommenem grab.

      Das ist die erste Strophe.«

      Mila starrte ihn an. Sie kannte das Gedicht nicht, aber es hörte sich nicht so an, als ob er bluffte.

      Seelen mit Rabenfittichen, flüsterte Odettes Stimme in ihrem Hinterkopf.

      Nicholas stand im Schatten eines Marktstandes, der Obst und Süßigkeiten verkaufte, und sah zu, wie dieser Kerl mit Mila sprach. Gesindel, hallten Odettes Worte von eben noch in ihm nach. Seelen mit Rabenfittichen. Er biss die Zähne zusammen.

      »Das ist sie also wirklich?«, fragte Luc.

      Nicholas hob das Kinn, senkte es wieder. Ein äußerst knappes Nicken.

      »Was wirst du jetzt tun?«

      Nicholas wandte den Kopf. Sein Freund stand dicht bei ihm und fuhr fort: »Ich meine: Warum sind wir hier? Wir könnten versuchen, einfach von hier zu verschwinden. Dann wäre die Geschichte zu Ende, bevor sie richtig angefangen hat. Warum …«

      Bilder flackerten in Nicholas’ Geist auf und ließen Lucs Worte in den Hintergrund treten. Bilder, die sich anfühlten, als wären sie mit einer Nadel auf die Innenseite seines Schädels graviert. Ein schwarzes Notizbuch, nicht das, das sich in seiner Manteltasche befand, aber eines, das genauso aussah. Die Schrift mit dem blauen Leuchten. Der Füllfederhalter, der durch seine Finger rutschte und auf den steinernen Fliesen aufprallte. Seine Beine, die unter ihm nachgaben. Das Kreischen völliger Erschöpfung in seinen Ohren …

      »Nicholas?« Lucs Stimme holte ihn zurück auf den Bahnhof.

      Er blinzelte, presste Daumen und Ringfinger in die inneren Augenwinkel.

      Luc hielt ihn an den Oberarmen gepackt. »Alles okay, Mann? Du warst mindestens eine Minute lang richtig weggetreten.«

      Nicholas machte sich los. »Ja. Klar, alles in Ordnung.« Er konnte seinen Blick nicht von Mila lösen, die in der riesigen Bahnhofshalle stand, eingehüllt in das überirdische Leuchten der Sonnenstrahlen.

      »Der Kerl da«, sagte Luc. »Er kommt in der Geschichte aber nicht vor, oder?«

      Nicholas schüttelte den Kopf, ohne den Typen aus den Augen zu lassen. Er löste sich aus dem Schatten des Obststandes.

      Luc ächzte leise. »So viel zum Thema einfach von hier abhauen«, murmelte er.

      Nicholas marschierte auf Mila zu und er war nur noch wenige Meter von ihr entfernt, als sie den Kopf wandte und ihn ansah. Mit einem Ruck blieb er stehen. Völlig bewegungsunfähig.

      Milas Augen weiteten sich.

      Eine Hand legte sich auf Nicholas’ Schulter. Luc. In Milas Augen schimmerte erst Schrecken auf, dann tiefe Verwirrung. Ihre Lippen teilten sich.

      »Du?«, wisperte sie.

      Nicholas krallte sich an Lucs Arm fest.

      »Wer ist der Kerl?« Die Stimme des anderen Jungen. »Sieht aus, als würde er gleich an seiner eigenen Zunge ersticken.«

      Mila achtete nicht auf ihn. »Nicholas?« Ihre Stimme war nur ein Hauch.

      Nicholas’ Knie begannen zu zittern.

      Und dann keuchte er auf, als ein brennender Schmerz sein Handgelenk erfasste. Er riss den Arm hoch. Starrte auf die Stelle direkt über seiner Pulsader. Ein schwaches blaues Leuchten fraß sich von innen an die Oberfläche seiner Haut.

      Beim Anblick des Jungen im schwarzen Mantel dachte Mila, sie würde ihren Verstand verlieren. Sie vergaß, dass sie gerade Eric etwas hatte fragen wollen. Vergaß, dass sie eigentlich auf dem Weg zu Isabelle war. Verschwunden waren sämtliche Menschen ringsherum. Verschwunden war auch der Bahnhof, ganz Paris.

      Die gesamte Welt.

      Es gab nur noch sie und den Jungen im schwarzen Mantel. Groß war er und schlank, genau wie in ihrem Notizbuch. Seine Haare hingen ihm wirr in die Stirn, verdeckten seine Augen. Trotzdem wusste sie, dass er sie anstarrte. Sein Mantel klaffte auf, enthüllte eine teure Jeans und ein schlichtes, aber ebenfalls teuer aussehendes weißes Hemd.

      »Nicholas?« Milas Lippen formten den Namen, aber sie spürte nicht, ob sie ihn laut sagte. Sie hörte nichts. Wie in einem riesigen, kalten Vakuum schwebte sie. Ihr Herz zog sich zu einem winzigen Punkt zusammen, sodass sie nicht mehr atmen konnte.

      Sein Blick begegnete ihrem und in diesem Moment entstand etwas Namenloses zwischen ihnen, etwas, das ihr enges Herz weitete, mehr, als es sich jemals zuvor geweitet hatte. Plötzlich fühlte sie sich unendlich leicht und gleichzeitig tonnenschwer, alt und doch jung wie nie zuvor.

      Sie sah, wie Nicholas sich krümmte, wie er Halt suchte bei seinem Freund, einem breitschultrigen Kerl mit kurzen Beinen und einem Brustkorb wie ein Gewichtheber.

      Der Ansturm der starken Gefühle zwang sie fast in die Knie und gerade, als sie wieder ausatmete, wurde Nicholas von seinem Begleiter in Richtung Ausgang weggezerrt.

      Weg von ihr.

      Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?, hallten die Worte des alten Mannes aus dem Zug in ihr nach.

      Eric neben ihr schien etwas zu fragen, doch sie hörte ihn nur undeutlich, als sei sie plötzlich unter Wasser geraten.

      Mit klopfendem Herzen starrte sie Nicholas hinterher.

      Draußen vor dem Bahnhofsgebäude zwang Luc Nicholas, stehen zu bleiben. »Alter«, stieß er hervor. »Was war das denn?«

      Nicholas umklammerte sein Handgelenk. Dann nahm er die Hand fort, blickte auf die schmerzende Stelle. Blaues Leuchten brannte sich durch seine Haut, feine Linien, die Bögen bildeten und Schleifen. Ein Wort.

       Mila.

      Er

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