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sagte er: »Nicholas’ Geschichte. Sie beginnt.«

      Mila verließ den Bahnsteig und blieb mitten in der Haupthalle stehen. Hier war es nicht weniger laut als bei den Zügen. Das Dach bestand aus einem Gewirr von Metallstreben, die ein Glasgewölbe stützten und für einen starken Hall sorgten. An jeder zweiten Querstrebe über ihrem Kopf hingen große Plakate, die den neuesten Liebesfilm eines berühmten amerikanischen Schnulzenautors ankündigten. Ein Mann war darauf zu sehen, der eine Frau auf den Armen durch eine ziemlich dramatische Nebelwolke trug.

      Milas Blick wanderte weiter zu den Sonnenstrahlen, die schräg durch das Glasdach hereinfielen und dessen Stahlgerippe weichzeichneten. Die achteckige Jugendstiluhr an einem der Marmorbögen zeigte kurz vor halb drei. Auf dem großformatigen Gemälde war eine Zugszene abgebildet, die auf den ersten Blick heiter wirkte. Bis Mila erkannte, dass es eine Abschiedsszene war. Sie wandte den Blick davon ab. Aus einem der kleinen Geschäfte ganz in der Nähe wehte der Geruch von Crêpes zu ihr herüber. Von irgendwoher kam Gesang. Jemand gab ein altes Edith-Piaf-Lied zum Besten. Es klang ziemlich schief, aber irgendwie sympathisch.

      Mila wandte sich wieder dem lichtdurchfluteten Glasdach zu. Sie kniff die Augen zusammen. Wenn sie den geschäftigen Lärm des Bahnhofs, die ständigen Lautsprecherdurchsagen mit ihren nervigen Jingles, das Stimmengewirr und auch das Kreischen von Zugbremsen ausblendete, wirkte der Ort fast magisch. Plötzlich hatte sie das Bedürfnis, darüber zu schreiben, und sie wunderte sich, wie stark es war. Sie griff nach dem Schultergurt ihrer Umhängetasche und zog ihr Notizbuch hervor.

      »Haben Sie einen Euro für mich?«

      Mila blickte auf. Eine Frau von unbestimmbarem Alter hatte sich vor ihr aufgebaut. Sie trug ein buntes Tuch über grauen Locken, die aussahen wie Stahlwolle. Sie roch auch nach Stahlwolle, jedoch seltsamerweise vermischt mit dem Geruch von edlem Körperpuder. Gehüllt war die Frau in mehrere lange und ziemlich schmutzige Röcke. Darüber trug sie eine Wolljacke, die mehr aus Löchern als aus Garn bestand. Die Farbe konnte man nicht mehr erkennen, so verblasst war das Teil. Hellblau, tippte Mila. Vielleicht auch lila.

      »Haben Sie einen Euro für mich?«, wiederholte die Frau mit einem freundlichen Lächeln. Ihre Fingernägel waren so schmutzig, dass es aussah, als seien die Trauerränder Teil ihres Körpers, genau wie ihre schlanke Nase oder die hellblauen, forschenden Augen.

      Mila nickte. Da war etwas an dieser Frau, ein unbewusst wahrnehmbarer Widerspruch, der sie faszinierte. »Natürlich.« Sie klemmte ihr Notizbuch unter den Arm, kramte ihr Portemonnaie aus der Tasche und suchte ein Zwei-Euro-Stück heraus. »Reicht das?«

      Die Frau hielt die Hand auf. Quer über ihre Finger liefen alte, wulstig aussehende Narben. Es sah aus, als habe die Frau sich vor langer Zeit einmal beinahe die obersten Fingerglieder abgeschnitten. »Vielen Dank für Ihre Großzügigkeit«, sagte die Frau und ließ die Münze in den Falten ihres Rockes verschwinden. Und dann tat sie etwas sehr Unheimliches.

      Sie beugte sich über Mila, als müsse sie an ihr schnuppern. »Armes Ding!«, murmelte sie.

      Mila fühlte sich schlagartig unwohl. Was, wenn die Alte auf ihr Portemonnaie aus war?

      »Was meinen Sie damit?« Ihre Sorge schien in ihrer Stimme mitzuschwingen, denn die Alte lächelte sie beruhigend an.

      »Von mir droht Ihnen keine Gefahr.«

      Mila konnte nicht anders. Sie musste fragen: »Sondern?«

      Da schüttelte die Frau traurig den Kopf. »Diese Geschichte hier ist längst zu Ende erzählt, meine Liebe. Nicholas befindet sich schon in Ihrer Nähe.«

       Nicholas?

      Mila dachte an die Zeilen, die sie auf der Fahrt hierher geschrieben hatte. Nicholas, der sich im Schatten des Eiffelturms vor das kleine Mädchen kniete. Nicholas, der sie in ihrer Fantasie schon seit Jahren begleitete. Ihr Unbehagen wandelte sich in eine Gänsehaut, die ihr bis zum Haaransatz im Genick hochkroch. Ihr gesamter Körper kribbelte plötzlich.

       Diese Geschichte hier ist längst zu Ende erzählt …

      Bevor Mila fragen konnte, was genau die Obdachlose gemeint hatte, wandte diese sich ab. Als sie davonging, glaubte Mila, sie Gedichtverse rezitieren zu hören.

       »Nichts süsser für ihn dem alles erfüllt ist mit trauer

       Und der seit langem in eurem reife gefriert

       Ihr bleichen himmel die ihr unsre Länder regiert.«

      Sie blieb noch einmal stehen. »Passen Sie auf sich auf«, rief sie Mila über die Schulter zu. »Das Gesindel hat Sie längst im Visier. Und es hat Seelen mit Rabenfittichen.«

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      Baudelaire«, sagte eine Stimme direkt hinter Mila.

      Ihr Herz verstolperte einen Schlag. Erschrocken fuhr sie herum. Hinter ihr stand der Junge von der Bank auf dem Bahnsteig, den sie fast angerempelt hatte. Offenbar war er ihr gefolgt. Er grinste sie ebenso entwaffnend an wie zuvor, aber als habe sich ein zweites Bild über das erste geschoben, kam seine Miene Mila plötzlich irgendwie weniger freundlich vor.

      »Nervös?« Sein Blick folgte der Obdachlosen. »Ja, Odette hat diese Wirkung auf die meisten Menschen.«

      »Odette.« Mila sah der Alten ebenfalls nach, schaute zu, wie sie mit bedächtigen Schritten in Richtung Ausgang schlurfte. »Was meintest du eben mit Baudelaire?«, fragte sie den Jungen.

      Er zuckte mit den Schultern. »Die Alte ist hier am Bahnhof bekannt dafür, dass sie ständig dieses eine Gedicht von Baudelaire rezitiert. Die Rabenfittiche kommen darin auch vor.«

      »Baudelaire«, sagte Mila und legte so viel Ungläubigkeit in ihre Stimme, wie sie nur konnte.

      Der Junge vergrub die Hände in den hinteren Hosentaschen. Er war schmal, aber ihr fiel auf, dass er einen ziemlich sehnigen Körper hatte. Die Muskeln seiner Oberarme zeichneten sich unter seinem T-Shirt ab, die Unterarme schienen kräftig zu sein. Er wirkte aufsässig, irgendwie kompromisslos herausfordernd.

      »Baudelaire, ja.« Er warf einen Blick über ihre Schulter. Seine dunklen Haare fielen ihm dabei ins Gesicht.

      Milas Hände umklammerten das rote Notizbuch. Mit den Fingerspitzen spielte sie an dem Haarband, spürte die dünnen Gummifäden, die daraus hervorstaken. Das, was diese Odette eben gesagt hatte, ging ihr durch den Kopf.

      Diese Geschichte hier ist längst zu Ende erzählt. Und: Nicholas befindet sich schon in Ihrer Nähe.

      Wieder erfasste ein Kribbeln Milas Körper.

      »Wie heißt du?«, fragte sie den Typen.

      Er zog überrascht das Kinn zurück. »Ich? Warum interessiert dich das?«

      »Bist du Nicholas?« Sie kam sich albern vor. Diese Obdachlose hatte offensichtlich ihren Verstand nicht mehr ganz beieinander. Doch dann dachte Mila wieder an ihr Notizbuch und die Szenen von Nicholas darin. An seine dunklen Haare, die ihm so leicht in die Augen fielen. An seinen durchtrainierten Körper. Vielleicht war ja sie selbst es, die gerade den Verstand verlor.

      »Nicholas?« Der Typ schüttelte den Kopf. Seine Haare gerieten ihm wieder in die Augen und er strich sie weg. »Nie gehört. Wer soll das sein?«

      Verwirrt atmete Mila aus. Nicht den Verstand verlieren! Nicholas war eine Figur aus einer Geschichte. Eine Fiktion, die sie sich selbst ausgedacht hatte. Abgesehen davon hatte der Junge vor ihr milchkaffeebraune Augen und nicht dunkelblaue wie ihr Nicholas. Und auch sein Haar war bei näherer Betrachtung braun und nicht schwarz. Seine Jeans hätte eine Wäsche gut vertragen können.

      »Schon gut«, murmelte sie. »War nur so eine Idee.«

      Der Typ zögerte, dann zog er eine Hand aus der Tasche und streckte sie ihr

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