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sie, und sie spürte auch die Trauer, die diese Person ausstrahlte.

      »Verzeih mir«, wiederholte der alte Mann und endlich verstand Mila den Namen. »Héloise …«

      Mit einem Keuchen wachte sie auf. Sie zitterte, obwohl es warm im Raum war.

      »Na, ausgeschlafen?«

      Mila blinzelte. Jetzt erst wurde ihr klar, dass die winzige Wohnung mit dem leckeren Geruch von Tomatensoße und Knoblauch gefüllt war. Und vor allem mit der Gegenwart von Isabelle.

      Ihre Freundin, die in der kleinen Küche gestanden und in einem Topf gerührt hatte, stürmte heran, zog Mila in eine aufrechte Position und umarmte sie.

      »Du hast den Schlüssel gefunden, fein. Wie war deine Reise? Geht es dir gut? Hast du gut geschlafen? Wie schön, dass du da bist!« Die Sätze prasselten wie Maschinengewehrsalven auf Mila nieder, aber bevor sie auch nur einen Ton rausbringen konnte, stand Isabelle schon wieder an ihrem Kochtopf, rührte darin herum und trank gleichzeitig aus einem großen Glas Wein, das auf der Küchenzeile bereitstand. »Gott, ich dachte, du wachst nie auf. Das Essen ist gleich fertig.«

      Von ihrer Position auf dem Sofa aus konnte Mila durch die offen stehende Küchentür sehen und ihr wurde von Isabelles Lebendigkeit ganz schwindelig. »Ganz okay. Ja. Geht so.«

      Als Isabelle sich umdrehte und verständnislos die Augenbrauen hob, lachte Mila. »Das waren, wenn ich richtig mitgekommen bin, die Antworten auf deine Fragen. Meine Reise war ganz okay. Ja, es geht mir gut. Und geschlafen hab ich geht so.« Sie wies auf die düsteren Bilder an den Wänden. »Die sind offenbar nicht gut für meinen Schönheitsschlaf.«

      Isabelle stemmte die Hände in die Hüften und fing an zu lachen. »Ach, Süße, du bist wirklich einmalig!«

      Mila musste mitlachen und ihr wurde bewusst, dass es das erste Mal war, seit sie in Paris war. Sie schwang ihre Beine über die Sofakante. Trotz des Traumes fühlte sie sich erholt und viel besser als vorhin. »Wie spät ist es eigentlich?«, fragte sie.

      Sie schaute aus dem niedrigen Fenster. Die Sonne war bereits hinter den Dächern der Nachbarhäuser verschwunden.

      »Kurz vor halb neun«, sagte Isabelle. »Essen ist gleich fertig.«

      Halb neun! Das hieß, Mila hatte mehrere Stunden geschlafen! Sie trat zum Tisch und nahm sich ein Glas Wasser, das sie durstig austrank.

      Isabelle sah es und rümpfte die Nase. Dann goss sie ein zweites Glas von ihrem Rotwein ein und reichte es Mila. »Hier.«

      Der Wein war dunkelrot und verströmte einen intensiven Geruch nach Brombeeren und Schokolade. Vorsichtig nahm Mila einen Schluck. Er schmeckte schwer und ziemlich lecker und es fühlte sich verblüffend gut an, ihn zu trinken. Wie ein Akt der Rebellion. So, als sei ihre Flucht von zu Hause jetzt erst Wirklichkeit geworden.

      Isabelle, die sie beobachtet hatte, schien zu spüren, über was sie nachdachte. »Was macht deine Mutter?«, fragte sie vorsichtig.

      Mila stellte das Weinglas ab, drehte es auf dem Tisch im Kreis. »Keine Ahnung.« Sie klang aufsässig, das hörte sie selbst. Und es lag an ihrer Unlust, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Trotzdem zog sie das Handy aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf.

      Helena hatte es offenbar aufgegeben, ihr weitere Nachrichten zu schicken. In den letzten Stunden war keine weitere mehr gekommen. Seltsamerweise ärgerte Mila das fast genauso sehr wie das vorherige Bombardement. Wollte Helena sie jetzt durch Missachtung bestrafen?

      Sie schaltete das Handy aus und legte es auf den Tisch neben das Weinglas. Sie würde nicht mehr an ihre Mutter denken. Sie war in Paris und bei Isabelle. Und das wollte sie verdammt noch mal genießen.

      »Soll ich dir beim Kochen helfen?«, fragte sie.

      Isabelle lächelte sie an. »Du kannst schon mal das Baguette schneiden.« Sie zog sie in die Küche, zeigte ihr das Schneidebrett und wenig später waren beide in eine eingehende Unterhaltung über ein paar Leute vertieft, die sie aus dem Künstlercamp kannten.

      So war es immer mit Isabelle: Auch wenn sie sich länger nicht sahen, konnten sie dort anknüpfen, wo sie stehen geblieben waren. Isabelle war vor über einem Jahr in Berlin gewesen und hatte ein paar Tage bei Mila gewohnt. Jetzt fühlte es sich so an, als hätten sie sich gerade erst verabschiedet. Mila erfuhr, dass ihre Freundin, genau wie sie selbst, gerade eine gescheiterte Beziehung hinter sich hatte. Als sie nachfragte, tat Isabelle es mit einem schnöden Achselzucken ab. »Victor war ein Freak«, behauptete sie und nahm noch einen Schluck aus ihrem Glas.

      Mila dagegen hatte ihr Weinglas auf dem Tisch stehen lassen. Noch immer kreiste ihr der Kopf von der Reise und sie trank selten Alkohol.

      Als das Essen schließlich fertig war, deckten sie den Tisch und während sie aßen, schien Milas Welt sich endlich wieder in vertrauten Bahnen zu bewegen.

      Nur einmal, als Isabelle fragte, wie ihre Fahrt hierher gewesen war, dachte Mila an all die schrägen Dinge, die ihr seit ihrer Ankunft in Paris passiert waren. Sie zögerte, überlegte, was sie ihrer Freundin erzählen sollte. »Im Zug saß mir ein ziemlich sonderbarer Kauz gegenüber«, sagte sie schließlich.

      Isabelle, die ihren leer gegessenen Teller mit einem Stück Baguette abwischte, schaute interessiert auf. Sie stand auf sonderbare Käuze, das wusste Mila.

      »So ein alter Mann«, führte sie darum aus. »Ziemlich aufdringlicher Typ. Er wollte sehen, was ich schreibe.«

      Isabelle schob sich das Brot in den Mund. »Und? Hast du es ihm gezeigt?«

      Mila nickte.

      Isabelle kaute und wartete.

      »Seltsam, oder?«, meinte Mila. »Ich habe keine Ahnung, wieso ich das getan habe. Ich zeige meine Sachen sonst fast nie jemandem, aber diesmal fühlte es sich irgendwie richtig an. Meine Szene hat ihn an eine alte Liebesgeschichte erinnert. Wir haben allerdings nicht näher darüber gesprochen.«

      »Paris und die Liebe …« Isabelle schob ihren Teller beiseite. »So, Herzensfreundin«, sagte sie. »Du hast gegessen, ich hab getrunken«, sie deutete auf ihr Glas Wein, »wir haben alle unsere Bekannten durchgehechelt. Zeit also, zu den wirklich wichtigen Themen zu kommen. Jetzt erzählst du Tante Isabelle mal, was genau bei dir zu Hause los ist.« Als Mila zusammenzuckte, lachte sie. »Und nichts auslassen, ja? Ich kenne dich schließlich.«

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      Das alte, umgebaute Fahrrad mit den drei Rädern sah aus, als wäre schon seit Jahren niemand mehr damit gefahren. Der Rahmen, der wohl einmal rot gewesen sein musste, war verrostet, die Reifen platt, die Schutzbleche verbeult. Und irgendjemand hatte das Lenkrad abmontiert und mitgenommen. Chocolaterie stand auf dem Metallkasten, der zwischen die beiden Hinterräder montiert worden war. Und: Livraison rapide – Schnelle Lieferung.

      Mila lief das Wasser im Mund zusammen, nicht wegen dieses alten Liefergefährts, sondern wegen des Geruchs, der aus der offenen Ladentür dahinter auf den Gehweg hinausdrang. Es roch nach warmer Schokolade, nach Vanille und Zimt. Die Holzregale des kleinen Ladens waren vollgestellt mit Leckereien aller Arten. Es gab Schokoladentafeln in verschiedenen Formen und Größen, manche mit Nüssen und edlen Gewürzen und sogar einige mit Bildern von Paris darauf. In alten Weidenkörben lagen kandierte Früchte und kleine Eiffeltürme aus rosafarbenem Zuckerschaum. Die rückwärtige Wand des Geschäftes war Gläsern und Flaschen vorbehalten. Dort gab es Senf und Öle, Wein und hochprozentige Schnäpse in allen Regenbogenfarben.

      Weil Isabelle den Tag über arbeiten musste – sie traf sich mit ihrem Galeristen, um eine neue Bilderserie zu besprechen –, hatte Mila beschlossen, sich Paris allein anzusehen. Nach dem Frühstück, das typisch französisch nur aus Milchkaffee und Croissant bestanden hatte, war sie aufgebrochen und hatte sich einfach treiben lassen. Sie hatte auf gut Glück die Metro genommen, war ausgestiegen, wo es ihr interessant erschien, und dann ein

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