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begreifen: Dieser Blick ging irgendwie tief in ihn hinein und schaffte es dort, sein steinernes Herz zu berühren. In einem Maße gar, wie er es noch vor Sekunden für völlig unmöglich gehalten hätte.

      Er sah zu diesem Häuflein Elend hinab, und seine Stimme versagte ihm den Dienst. Er hatte sie streng auffordern wollen, sofort das Armenhaus zu verlassen. Er hatte ihr dabei drohen wollen, Gewalt anwenden zu lassen, falls sie sich ihm zu widersetzen versuchte. Er hatte völlig kompromisslos, ja, gnadenlos auftreten wollen, wie es seiner Meinung nach dem Leiter des Armenhauses eben gebührte, um jegliches Betteln um Nachsicht der Betroffenen von vornherein zu unterbinden.

      Doch jetzt stand er da, gebeugt wie ein alter Mann, und viel zu schwach, dergestalt durchgreifen zu können. Ja, er verspürte sogar den Drang, dieser jungen, sichtbar geschundenen Frau die gütige Hand zu reichen, um ihr eine bessere Unterkunft zuzuweisen – ihr und ihrem armen Kind. In diesem Raum, wo das Elend so offensichtlich war, wo es den Menschen, die man hier gemeinsam eingepfercht hatte, nur noch um das nackte Überleben ging und um sonst gar nichts mehr, sollte sie nicht länger mehr verweilen müssen.

      Er erwischte sich selbst sogar dabei, dass er Adolphine Brinkmann deswegen haderte, weil sie Johanna und ihren kleinen Adolph nicht gleich schon besser untergebracht hatte. Wohl wissend, dass es in diesem hoffnungslos überfüllten Armenhaus, das er gar nicht wirklich leitete, weil er dafür überhaupt nicht willens, geschweige denn in der Lage gewesen wäre, nichts Besseres als dies hier geben konnte.

      In der Tat fiel ihm dazu nur ein Ort ein, der passender gewesen wäre. Nicht nur zur Unterbringung der geschundenen jungen Mutter und ihres Sohnes, sondern auch dafür, ihre Wunden zu pflegen, was offensichtlich dringend erforderlich gewesen wäre. Ein Gedanke, den er in diesem Augenblick allerdings noch tief verborgen hielt, weil er ihn regelrecht erschreckte...

      Klar, die Wunden pflegen lassen, das hätte Adolphine tatsächlich längst schon in Angriff nehmen müssen, wenn sie sich nicht zuerst noch mit ihm, Winand Lemberg, hätte auseinandersetzen müssen betreffend überhaupt des Verbleibes der flüchtigen Ehefrau und Mutter.

      Und dann beugte sich Winand Lemberg tatsächlich nach vorn und reichte der Armen die Hand, und er hörte sich selber zu, wie gar wundersame Worte über seine bebenden Lippen sich drängten, Worte, die nicht nur er vordem als völlig undenkbar erachtet hätte, weil sie total dem entgegen gesetzt waren als alles, was er gegenüber Adolphine an Standpunkt vertreten hatte:

      „Komme sie, Johanna, ich bringe sie und ihr Kind an einen besseren Ort!“

      Zumal ein Versprechen, von dem er gar nicht wusste zu diesem Zeitpunkt, wie er es denn überhaupt in die Tat umsetzen sollte. Weil sich alles in ihm dagegen sträubte, diesen Gedanken, der längst begonnen hatte, ihn zu beherrschen, auch in die Tat umzusetzen.

      Ja, was sollte dieses Versprechen, denn wo konkret konnte – ja: durfte! - er denn diese junge Frau unterbringen mit ihrem Sohn?

      Vorerst einfach nur weg von hier. Soviel gestand er sich zumindest bereits ein.

      Johanna zögerte indessen. Sie betrachtete ungläubig die dargebotene Hand und wagte es nicht, danach zu greifen.

      Erst nach einer kleinen Weile, als Winand Lemberg seine Hand immer noch nicht zurückzog, fasste sie ein wenig mehr Mut und griff zaghaft danach.

      Jetzt war sie endlich auch wieder in der Lage, ihren kleinen Adolph ganz fest an sich zu drücken.

      Doch dieser zitterte jetzt nicht mehr vor Angst, sondern starrte nur noch den großgewachsenen Mann vor ihnen mit ungläubig geweiteten Augen an.

      Winand Lemberg half der jungen Frau, aufzustehen, und zog sie einfach mit sich hinaus.

      Erst draußen, vor der Tür, wurde ihm so richtig bewusst, was er da getan hatte - und was zu tun er noch im Begriff sein würde, was im Grunde genommen noch wesentlich schwerwiegender erschien...

      Wie war das überhaupt möglich? Ausgerechnet er, Winand Lemberg, der in seinem bisherigen Leben immer noch zuallererst an sich selbst gedacht hatte? Obwohl er als Leiter des Armenhauses eingesetzt worden war. Was er ja nur deshalb angenommen hatte, weil er darin eine Chance gesehen hatte, sich im eigenen Hansehaus einen besseren Namen zu machen.

      Was passierte da gerade mit ihm?

      Eine Frage, die er sich selbst nicht beantworten konnte, doch auch eine Frage, die sofort wieder verpuffte, sobald er der jungen, geschundenen Frau in die Augen blickte.

      Da war auf jeden Fall etwas, was ihn zutiefst berührte. Nein, so etwas hatte er noch niemals zuvor erlebt. Er wusste nicht, wieso dabei sein Herz wie verrückt zu schlagen begann. Diese junge Frau, zierlich, um nicht zu sagen zerbrechlich wirkend...

      Diese Verletzungen in ihrem wohl normalerweise überaus hübschen Antlitz...

      Sicherlich hatte sie auch noch Verletzungen am ganzen Körper, was man wegen der einfachen Kleidung, hochgeschlossen bis zum Hals, nicht sehen konnte. Es musste ganz dringend ein Heilkundiger herbei zitiert werden, um sich der Armen anzunehmen, bevor sich diese Wunden entzündeten oder gar vereiterten. Es musste einfach alles für sie getan werden – und natürlich auch für ihren armen Jungen.

      Und noch etwas kam in ihm auf: Ein weiteres bislang unbekanntes Gefühl, das diesem Gefühl, wie er es für die eigentlich ihm völlig unbekannten jungen Frau empfand, total entgegen sprach: Nämlich echter Hass auf deren Ehegemahl Hans Holbein, der solches seiner eigenen Frau angetan hatte. Was war das denn für ein Unmensch? Schändlicher konnte sich doch wohl ein Mann gar nicht verhalten.

      Adolphine Brinkmann wäre wohl aus allen Wolken gefallen, hätte sie diese mehr als wundersame Wandlung des Winand Lemberg vom rigorosen und gnadenlosen Prinzipienreiter zum beinahe schon übertrieben warmherzigen Samariter mitbekommen, und während sie sich noch den Kopf zerbrach darüber, wie sie Johanna und ihrem Kind helfen konnte, entgegen dem vordem erklärten Willen von Winand Lemberg, zog dieser doch tatsächlich Johanna Holbein und ihr Kind einfach so mit sich mit.

      Er konnte sich selbst gegenüber noch immer nicht eingestehen, wo er die beiden so lange unterbringen wollte wie es nötig erschien, und begann jetzt tatsächlich auch noch, sich einzureden, es sei auf jeden Fall ja nur vorübergehend:

      Zunächst einmal würde er sie galt in seine eigenen Gemächer bringen müssen, höchst persönlich. Auch auf die Gefahr hin, dass dies gründlich missverstanden werden könnte von jedem, der dieses Vorgangs ansichtig wurde.

      Der Gedanke war eindeutig: Alles nur vorübergehend! Eine Notlösung gewissermaßen!

      Obwohl er genau hätte wissen müssen, dass dies nie und nimmer klappen konnte, das mit der vorübergehenden Lösung, weil er es niemals über das Herz bringen würde, die beiden nach der dringend nötigen Erstversorgung wieder weg zu schicken.

      Dennoch blieb er in der Ausführung seiner Rettungsaktion unbeirrbar.

      3

      Eine sehr aufgeregte Dienstmagd des Armenhauses kam zu Adolphine geeilt, um ihr außer Atem zu erklären, zwei von der Stadtwache wollten sie dringend sprechen.

      Normalerweise hätte sie sich ja direkt an Winand Lemberg wenden müssen, doch Adolphine hatte alle Mägde gelehrt, sich immer zuerst an sie zu wenden und erst danach, wenn sie damit einverstanden war, an den offiziellen Hausherrn.

      Das hatte diese nur brav eingehalten,

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