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hat sie uns früher manchmal als Gutenachtgeschichte erzählt, aber du bist immer eingeschlafen.«

      Piet streckte ihr die Zunge raus. »Gar nicht!«

      »Oh, doch. Es geht um die Legende von Madame Picot.«

      Von ihrem Opa kam ein Nicken. »Madame Picot zog über Nacht in die Stadt und zuerst blieb sie unbemerkt«, setzte er die Geschichte fort. »Die Menschen wurden zu dieser Zeit von kleinen und großen Problemen geplagt. Viele waren sehr unglücklich. Madame Picot eröffnete damals einen kleinen Laden namens Bittersüß. Dort stellte sie Schokolade her und verzauberte mit ihren Köstlichkeiten ganz Belony. Sehr schnell sprach sich herum, dass ein Besuch in ihrer Schokoladenstube wahre Wunder bewirkte. Wer einmal ihre Kreationen gekostet hatte, war bald darauf Probleme und Sorgen los. Es war wie … verzaubert!«

      Obwohl Elina die Geschichte über Madame Picot schon kannte, hing sie genauso gebannt wie Piet an den Lippen ihres Opas. Zwar glaubte Elina nicht an wahre Magie, aber ihr gefiel der Gedanke, dass es eine süße Hilfe für jedes Problem gab. Zum Beispiel, um schwere Hausaufgaben zu lösen oder sich in doofen Situationen unsichtbar zu machen.

      »Der Junge konnte allerdings nicht ins Bittersüß spazieren, um Hilfe zu suchen. Er lebte lange nach Madame Picots Zeit und ihr Laden war inzwischen eine Touristenattraktion, ohne Zauber.«

      Elina dachte an den letzten Sommer, als ihre Schulklasse einige der historischen Sehenswürdigkeiten in Belony besucht hatte. Darunter auch das Bittersüß. Ihre Geschichtslehrerin Frau Schneider war ganz aus dem Häuschen gewesen. Ihre schrillen »Ohs!« und »Ahs!« hatten durch die altmodische Schokoladenstube gehallt, als gäbe es nichts Schöneres auf der Welt als von Spinnweben überzogene Kessel und Werkzeuge.

      Aber Frau Schneider war nicht die Einzige, die bei Erzählungen über Madame Picot in Verzückung geriet. Die Menschen in Belony liebten die Legende.

      Elina verstand das ganze Theater um die jahrhundertealte Geschichte einfach nicht. Als Märchen war sie ja ganz schön, aber es gab schließlich keine Beweise, dass Madame Picots Süßigkeiten wirklich irgendwelche magischen Wunder bewirkt hatten.

      »Wie ging es mit dem Jungen weiter?«, fragte sie neugierig.

      »Ihm blieb noch der Wunschbaum!«

      »Oh, den kenne ich!«, murmelte Piet schläfrig. »Der steht im Park.«

      »Das ist richtig!«, sagte ihr Opa. »Der Wunschbaum ist das Überbleibsel von Madame Picots Erben. Wer dort einen Wunsch hinterlässt, hat vielleicht Glück und er wird einem erfüllt. Der Junge wünschte sich, er wäre nicht mehr so arm und sein Leben in Belony dadurch schöner und aufregender. Er schrieb seine Bitte auf einen Zettel und knüpfte diesen an einen Zweig des Wunschbaumes.«

      »Hat sich sein Wunsch erfüllt?«, wollte Elina wissen.

      »Oh, ja! Er fand in jenem Sommer einen wahren Freund, mit dem dieser und auch alle Sommer darauf zur schönsten Zeit seines Lebens wurden. Der Junge erkannte durch diesen Freund, dass es Dinge gab, die unbezahlbar waren, und sein Herzenswunsch eigentlich darin bestanden hatte, jemanden zu finden, mit dem die langweiligen Momente zu abenteuerlichen Erlebnissen wurden. Denn es sind nicht Orte oder Geld, die uns glücklich machen, sondern wundervolle Freundschaften und Augenblicke.«

      Ihr Opa lächelte und wirkte für einen Moment ganz in Gedanken versunken. Auch Elina schwieg. Ein drückendes Gefühl drehte ihr förmlich einen Knoten in den Magen.

      Freundschaften … in der Schule verstand sie sich zwar mit einigen Leuten, aber so was hatte sie nicht. Wahre Freunde.

      Dabei wünschte Elina sich diese am sehnlichsten.

      »Würde das mit den Wünschen nur so funktionieren«, murmelte sie.

      Sie spürte eine sanfte Hand auf ihrem Arm und schaute zu ihrem Opa auf.

      »Ein bisschen Vertrauen in Magie hat noch niemandem geschadet.«

      Ehe Elina etwas antworten konnte, klingelte es an der Tür.

      Piet war auf einen Schlag hellwach und sprang vom Sofa. »Mama und Papa!«

      »Warte!«, sagte ihr Opa sofort. »Du sollst nicht allein …«

      Schon verschwanden beide im Flur. Von dort erklangen auch die fröhlichen Stimmen ihrer Eltern. Elina blickte betrübt in ihre Tasse. Opas Geschichten haben immer ein Happy End, dachte sie. Aber Happy Ends waren nur etwas für Träumer. Und sie war ganz bestimmt keine hoffnungslose Träumerin.

      Frühstücken glich in ihrer Familie einer chaotischen Zirkusnummer. Elinas Vater hetzte jeden Morgen durchs Haus, um noch dies und jenes zu suchen, und ihre Mutter ging am Küchentisch irgendwelche Dokumente von der Arbeit durch, weshalb sie meist hinter Papierstapeln und Ordnern verschwand. Piet war ein Morgenmuffel und kleckerte im Halbschlaf ständig mit seinem Müsli oder der Marmelade. Elina kam sich zu dieser Zeit manchmal wie der Kleber vor, der das Chaos zusammenhielt, denn sie selbst war nach dem Aufstehen putzmunter.

      »Wer fährt die Kinder zur Schule?«, fragte ihr Vater beim Durch-den-Raum-Rauschen-und-Käsetoasthappen-Abbeißen. »Wo ist denn nur meine Brille?«

      Schwups, war er wieder fort! Ihre Mutter brummte nur.

      »Wir fliegen wie immer mit unserem Ufo zur Schule«, antwortete Elina.

      »Papa ist eben verplant!«, sagte der Papierstapel alias ihre Mutter und seufzte.

      Elina runzelte die Stirn. »Wie kann Papa denn vergessen, dass wir immer den Bus nehmen?«

      »Stress!«, sagte ihre Mutter. »Der macht Erwachsene ganz verrückt.«

      »Dann bin ich auch verrückt. Ich rede jeden Morgen mit einem Papierstapel«, murmelte Elina und löffelte ein paar Cornflakes. Sie knuffte Piet, der neben ihr saß, in die Seite, da er beim Milcheinschütten fast eingedöst wäre. »Wach bleiben.«

      Piet schreckte hoch und kippte die Milch mit so viel Schwung in seine Schale, dass sie nur so in alle Richtungen spritzte und auch Elinas Shirt erwischte.

      »Mensch, Piet!«, stieß sie verärgert aus. »Nicht schon wieder!«

      Ihr Bruder ignorierte sie und schlürfte lautstark sein Frühstück, als gäbe es nichts Köstlicheres auf der Welt.

      Genervt stand Elina auf und wurde auf dem Weg zum Badezimmer fast von ihrem Vater umgerannt, der nun seine Brille auf der Nase sitzen hatte, aber trotzdem keinen Gang runterzuschalten schien. »Ich muss da leider vor dir rein!«, sagte er.

      Wusch!, knallte die Tür zu und Elina hämmerte dagegen.

      »Papa, ich muss gleich zur Schule!«

      »Elina, sagst du Papa, dass ich schon los bin?«, rief ihre Mutter. »Ich muss für den gestrigen Verkauf einer Immobilie noch einen Vertrag im Büro aufsetzen.«

      »Mama, warte!«, erwiderte sie. Doch als Elina in die Küche kam, waren der Papierstapel und auch ihre Mutter verschwunden. Seufzend ließ sie die Schultern hängen. Jetzt hatte sie gar nicht fragen können, wann sie gemeinsam ihre Geburtstagseinladungen erstellen und drucken würden. Wie blöd!

      Und Zeit, sich umzuziehen, hatte sie jetzt auch nicht mehr, denn ihr Papa schmiss im Bad eine schrille Gesangseinlage und schien da nicht so bald herauszukommen, und Piet saß immer noch am Tisch und machte keine Anstalten, sich fertig zu machen.

      Fünf Minuten später hatte Elina ihn dazu gebracht, sich Jacke und Schuhe anzuziehen, und die beiden verließen das Haus. Manchmal nervte ihre Chaosfamilie so sehr! Ohne Opa würde hier echt noch die Apokalypse ausbrechen!

      Gedankenverloren schloss sie die Haustür, da hörte sie die fröhliche Stimme ihrer Nachbarin. »Morgen! Sollen wir euch mitnehmen? Ida und Pauline haben heute später Schule und in der Garage ist noch ein Kindersitz.«

      Elina blickte zu Frau Sommerfeld, die hinter dem Gartenzaun stand und mit dem sonnenblumengelben Kleid, der weißen

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