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Wochen der Sommerferien so zu vergeuden? Das ist die Hälfte, die komplette Hälfte der heiligen Sommerzeit!“

      „Jetzt übertreib mal nicht.“

      Leonie sitzt im Schneidersitz auf dem Teppichboden und wickelt ihre langen blonden Haare um ihren Zeigefinger. „Also ich freue mich.“

      Als Einzelkind zweier berufstätiger Eltern war sie in den Ferien schon immer mehr bei mir als in ihrem eigenen Zuhause. Leonie hatte sich immer Geschwister gewünscht, doch ihre Eltern waren heute wie vor zehn Jahren der Meinung, dass ein Kind genug sei. Sie wollten sich lieber auf ihre Karriere konzentrieren und wenn sie dann mal zu Hause waren, ihrer Tochter die ungeteilte Aufmerksamkeit widmen können. Dass Leonie die Aufmerksamkeit liebend gerne geteilt hätte, hielten sie für eine Phase, die spätestens dann vorbei gewesen wäre, wäre ein schreiendes Baby in den Held-Haushalt eingezogen. Ich hingegen wäre manchmal ganz froh, das komplette Haus für mich alleine oder wenigstens ein bisschen mehr Privatsphäre zu haben. Da die Momente, in denen ich mit meiner Familiensituation ziemlich zufrieden bin, allerdings deutlich überwiegen, bleibe ich doch bei der Meinung, dass nervige Geschwister, mehr Lärm als Ruhe und ein bisschen zu wenig Privatsphäre im Großen und Ganzen besser ist, als Einzelkind zu sein und seine Eltern maximal vor dem Schlafen- und zur Schule gehen zu sehen. Ein Haustier darf Leonie auch nicht haben, da sie die starke Tierhaarallergie angeblich von ihrer Mama geerbt hat. Leonie ist tatsächlich viel krank, doch ich glaube, dass vieles davon von ihrer Mutter herrührt, die bei allem Gesundheits- und Krankheitsbezogenen ein wenig übersensibel ist. So auch die Tierhaarallergie, die wohl eher aus der Angst der Mutter heraus diagnostiziert wurde, als aus der tatsächlichen Bedrohung selbst. Dass Leonie in der Gegenwart von Tieren weder eine schniefende Nase noch tränende Augen, einen trockenen Mund oder einen sichtbaren Hautausschlag hat, kann ich mit Sicherheit sagen, da wir davon zu Hause mehr als genug haben. Zusammen mit meinen Eltern, meinen drei Geschwistern, davon ein älterer Bruder und ein Paar frühpubertierende sechsjährige Zwillinge, Oma und Opa, und einem Dutzend Tiere bewohne ich nun seit sechs Jahren einen Bauernhof außerhalb Greetsiels im wunderschönen Ostfriesland. Manchmal stelle ich mir die Frage, wo ich wohl wohnen würde, hätten meine Eltern den alten Bauernhof an der Nordsee nicht gekauft. Hätte meine Mama die Stelle als Tierärztin nicht angenommen, wo wären wir dann gelandet? Hätten wir dort auch unsere Tiere und das große Grundstück, auf dem sogar Oma und Opa ein eigenes Haus bewohnen können? Oder säßen wir vielleicht zu sechst in einer Zweizimmerwohnung, dicht aufeinander, weil wir uns die hohe Miete für eine größere Immobilie nicht leisten können? Ich liebe Ostfriesland, liebe meine Freunde, die ich hier habe, und liebe den kleinen Fischerort, in dem wir wohnen. Ich kann mir kein anderes, besseres Leben vorstellen als das hier auf dem Bauernhof, den wir so mühevoll renoviert haben. In wenigen Wochen wird auch der alte Stall fertig sein, an dem mein Vater zusammen mit seinem Papa in jeder freien Minute arbeitet. Geplant war, in diesem Sommer noch die ersten Gäste in den fünf Ferienwohnungen empfangen zu können, doch durch den Bandscheibenvorfall meines Papas wird sich das wohl auf den Herbst verschieben oder sogar bis ins neue Jahr ziehen. Das Projekt ist eine Herzensangelegenheit, vor allem von meinen Eltern und Großeltern. Seit Jahren entwerfen sie die Pläne für den Bau, die vor zwei Jahren endlich angefangen wurden, in die Tat umgesetzt zu werden. Eltern und Kindern soll während des Aufenthalts das Leben auf dem Bauernhof und der Umgang mit Tieren ein wenig nähergebracht werden. Allerdings haben wir hier nicht nur die typischen Bauernhoftiere, sondern neben Pferden, Ziegen, Hühnern und unserem Esel-Opa Pumba auch ein Hängebauchschwein namens Otto und zwei Übergangswaschbären, die meine Mama vor einiger Zeit vom Herrchen eines ihrer Patienten übernommen hat, um die Kleinen aufzupäppeln. Damals waren sie mehr tot als lebendig und konnten vor Schwäche kaum noch die Augen öffnen. Ihre kleine Schwester konnten wir leider nicht retten, doch George und Clooney haben sich hochgekämpft und tollen mittlerweile wie zwei wildgewordene Bären durch ihr Außengehege, das mein Papa extra für sie gebaut hat. Auch wenn die beiden offiziell noch unsere „Übergangs“-Waschbären sind, bin ich mir ziemlich sicher, dass der Name nur Tarnung ist und die beiden hier alt werden dürfen – ich kenne schließlich meine Eltern und das Motto „Alles, was einen Namen hat, bleibt und gehört zur Familie“. Natürlich haben wir auch noch Ronja und Findus, zwei waschechte Hofkatzen und Mäusejäger, und Fee und Anton als Hütehunde, die allerdings nur bellen, wenn der Postbote kommt, weil er ihnen neben der Zeitung regelmäßig noch ein Leckerchen ins Maul steckt.

      „Mara, wo ist eigentlich dein Bruder?“, fragt Larissa ein bisschen zu beiläufig, als dass es als reines Interesse an seinem Aufenthaltsort durchgeht.

      „Schon mal auf die Uhr geschaut?“, gebe ich zurück. „Im Sommer darf er zwar ein bisschen länger aufbleiben und muss nicht direkt nach dem Sandmännchen ins Bett, aber um neun Uhr ist trotzdem Schicht im Schacht.“

      Natürlich spreche ich, anders als Larissa, von meinem kleinen und nicht von meinem großen Bruder.

      Zu auffällig, denke ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

      „Hannes ist vermutlich in seinem Zimmer, aber du kannst ja mal nachschauen.“

      „Ha ha ha“, kommt es von unter dem Kuschelkissen hervor.

      „Das war ernst gemeint“, antworte ich völlig unschuldig, bevor ich mich meiner längsten und besten Freundin Leonie widme, die an meinem Kleiderschrank lehnt und mit halbgeöffneten Augen vor sich hindöst.

      „Erde an Leonie.“

      Sie blinzelt.

      „Schläfst du schon?“, erkundige ich mich bei ihr. „Wir haben gerade mal halb zehn.“

      „Erst?“, gibt sie gähnend zurück. „Meine Güte, ich werde alt.“

      „Spinnerin“, lache ich und rolle mich vom Fußboden auf eine der Matratzen, die mein Bruder Hannes vorhin für Leonie und Larissa aufgepustet hat. „Haben wir jetzt eigentlich alles für morgen?“

      Meine Freundinnen und ich haben uns bereiterklärt, zusammen mit dem Turnverein Greetsiel die diesjährige Kinderfreizeit zu gestalten, um unser Taschengeld ein bisschen aufzubessern und den Verein zu unterstützen. Ich selbst war als Kind immer total begeistert von den Ferienfreizeiten und freue mich nun sehr, dieses Jahr als Betreuerin dabei sein zu dürfen. Morgen startet das dreiwöchige Programm mit einer Kennenlernrunde, ein paar Spielen und einem Bastelprogramm, bei dem jedes Kind seinen eigenen Piratenschmuck gestalten darf. Die diesjährige Freizeit steht nämlich unter dem Motto „Abenteuer auf hoher See“, und wir haben uns in den letzten Tagen einiges für die Kinder überlegt, um die kommenden drei Wochen so spannend wie möglich zu gestalten.

      „Also ich glaube, wir haben alles; und wenn nicht, dann tun wir einfach so, als wäre es genau so geplant gewesen.“

      „Einverstanden.“

      Ich nicke und erwische mich ebenfalls beim Gähnen. „Mensch Leonie, du hast recht. Wir werden wirklich alt.“

      Sonntag, 30.06.2019, 21: 32 Uhr

      - Helena -

      Es ist finster, die Fenster des Wagens sind mit Tüchern verhängt. Helena hat keine Chance, den Weg zu verfolgen, den sie zurücklegen. Sie reibt ihre Handgelenke aneinander, doch das Schiffstau ist zu fest, um es durch Scheuern lockern zu können. Sie rutscht auf ihrem Sitz hin und her, doch außer ein paar mickrigen Zentimetern nach links und rechts kommt sie nicht vom Fleck. Es ruckelt und rumpelt.

      Vielleicht ein Feldweg, denkt sie, was sogar sehr wahrscheinlich ist, denn durch das Fenster waren vorhin ausschließlich Meer und Deich zu sehen gewesen, und rundherum sind erfahrungsgemäß selten befestigte Straßen. Helena versucht, sich auf Bewegungen und Geräusche zu konzentrieren, doch anders als in Filmen und Büchern kann sie sich leider nichts zusammenreimen. Lange sind sie noch nicht unterwegs, doch Helenas Handgelenke fangen schon an zu kribbeln und leicht bläulich anzulaufen. Vielleicht sollte sie sich bemerkbar machen, damit die Fesseln wenigstens ein klein wenig gelockert werden. Helena bringt sich in Position, denn zu ihrer Überraschung wurden ihre Füße nicht zusammengebunden. Auch auf einen Knebel und eine Augenbinde hat der Unbekannte verzichtet. Helena tritt mit voller Wucht gegen den Sitz vor ihr. Der Stoß lässt den Kopf des Fahrers an der Lehne abprallen. Verdutzt

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