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Читать онлайн.Auf den zweiten Blick deuten sich allerdings bereits erste Probleme an. Wenn es um die Arbeit an neuen Songs geht, weiß Paul vielleicht etwas zu gut, was er will; die anderen können da nicht mithalten. Johns Let It Down muss von Paul erst aufpoliert werden, damit der Song sein Potenzial entfalten kann; vielleicht verzichtet John deshalb auch darauf, nach Pauls Erscheinen seinen zweiten neuen Song Dig A Pony nochmals vorzustellen, und überhaupt scheint er sonst nichts mehr zu bieten zu haben – Johns Produktivität des ersten Tags wird sich bald als Strohfeuer erweisen. George wiederum ist mit dem ganzen Drumherum der Proben unzufrieden und kommt zudem mit seinem eigenen Songmaterial nicht recht zum Zuge. Hinter allem aber steht die weiterhin unbeantwortete Frage, was man denn mit diesen Proben überhaupt bezweckt, worauf sie hinauslaufen sollen. Zündstoff genug also für die nächsten Tage. Wird es gelingen, ein Gefühl der Gemeinsamkeit zu entwickeln, wie es in I’ve Got A Feeling und Two Of Us anklingt, oder geht alles (um das Leitwort aus den neuen Songs von John und George zu zitieren) down, den Bach runter?
Alles muss vergehen
Freitag, 3. Januar 1969, Filmstudio Twickenham
Als gegen halb elf an diesem zweiten Probentag die Filmaufnahmen beginnen (ab jetzt sind zwei Kameras im Einsatz), sind Paul und Ringo da, George und John aber noch nicht. Paul nutzt die Zeit des Wartens auf die beiden Gitarristen, indem er sich ans Klavier setzt und zwischen Fingerübungen einige neue Stücke anspielt. Dies sind großteils keine Stücke, die für den geplanten Liveauftritt geeignet sind, sondern ruhige, balladeske Klavierkompositionen. Bei Einsetzen der Aufnahmen spielt Paul gerade die letzten Takte eines verträumten Stücks, von dem es zuvor nur eine Demo-Aufnahme aus dem Dezember 1968 gibt: THE LONG AND WINDING ROAD (0:14+). (Angeblich hat Paul den Song schon während der Arbeit am „Weißen Album“ einmal auf Band gespielt, dieses Band ist aber verschollen.) Als nächstes singt und spielt er – begleitet von Ringo, der den Rhythmus klatscht – eine schnellere Neukomposition, OH! DARLING (1:01+), improvisiert ein wenig und nimmt sich dann spielend, singend und pfeifend ein schon komplett ausgearbeitetes Stück vor, nämlich das nach Gassenhauer klingende MAXWELL’S SILVER HAMMER (2:55), das bereits für das „Weiße Album“ im Gespräch war, aber nicht allen Beatles bekannt ist. Paul und Ringo, der wieder mitklatscht, haben ihren Spaß und zeigen das auch, indem sie einige Passagen theatralisch übersteigern. Regisseur Michael Lindsay-Hogg fragt sie: „Ist euch Jungs überhaupt bewusst gewesen, dass ihr gefilmt werdet?“ Paul antwortet lachend: „Aber nicht doch!“
John und George sind noch immer nicht da, also übt Paul weiter sein Klavierspiel, diesmal mit einem elegischen Stück des amerikanischen Komponisten Samuel Barber, dem ADAGIO FOR STRINGS (4:07+). Knappe anderthalb Minuten dieser Klavierübung sind später im Film Let It Be zu hören – allerdings nicht zu sehen, da Lindsay-Hogg sie mit späterem Bildmaterial verschnitten hat. Paul beendet die elegische Stimmung mit einer Cha-Cha-Version des Klassikers TEA FOR TWO (1:08), die Ringo mit Schenkelklatschen und rhythmischem Teetassengeklapper begleitet. Das macht beiden Spaß, also wirbeln sie mit gesteigertem Tempo nochmals durch TEA FOR TWO (0:43), bevor Paul zu Fragmenten aus anderen Stücken übergeht: dem Walzer CHOPSTICKS (0:29), einer improvisierten Eigenkomposition (0:40), der Titelmelodie der Kindersendung TORCHY, THE BATTERY BOY (1:13), Jerry Lee Lewis’ WHOLE LOTTA SHAKIN’ GOIN’ ON (0:48) und einer weiteren Improvisation (0:35). Übergangslos geht es weiter mit einer neuen Eigenkomposition, bei der Paul zunächst nur mitsummt, bevor er die ersten Zeilen eines Textes über seine früh verstorbene Mutter anstimmt: „When I find myself in times of trouble / Mother Mary comes to me / Speaking words of wisdom, let it be.“ Dies ist die früheste bekannte Aufnahme von LET IT BE (1:09). Nach der ersten Strophe des noch unfertigen Stücks geht Paul in eine weitere Improvisation (1:13) über.
George trifft unterdessen ein und entschuldigt sich, er habe verschlafen – aber das macht nichts, denn John fehlt ja auch noch. Paul knabbert an einem schon angebissenen Apfel, der auf dem Klavier liegt (und ein hübsches Symbol der Beatles-Firma Apple abgibt). Paul tut es ein wenig leid, dass er dem Filmteam bisher nur Klaviergeplänkel zu bieten hat, aber Lindsay-Hogg stört das nicht: „Nein nein, das war schön. Das war ganz nett. Weißt du, wir haben ein paar Szenen eingefangen, wo man deine Finger nicht sieht, und wenn wir dann ein bisschen was für stimmungsvolle Stellen brauchen, lässt sich das vielleicht verwenden.“ Tatsächlich wird Filmaufnahmen des Moments, in dem Paul am Klavier improvisiert und George dazukommt, später im Film Let It Be der Ton des Adagio For Strings unterlegt. George hat derweil ein anderes Problem – er beklagt, dass sie auf den Fotos des Fanmagazins The Beatles Book inzwischen „immer älter“ aussehen.
Ringo, der älteste Beatle, nimmt nun Pauls Platz am Klavier ein, um einige Takte einer neuen Eigenkomposition zu spielen und dazu zu singen: TAKING A TRIP TO CAROLINA (0:36). Während Ringo anschließend weiter auf dem Klavier herumklimpert, blättern George und Paul in der neuesten Nummer von The Beatles Book. George liest belustigt ein paar Überschriften vor: „‚Die wahre Geschichte der Beatles’ – wir haben sie nicht verbergen können! ‚Paul McCartney und seine Freundin, die Fotografin Linda Eastman, besuchen in Portugal den Beatles-Biographen Hunter Davies’“. Dann greift er sich seine Akustikgitarre und spielt und singt Bruchstücke aus PLEASE MRS. HENRY (1:08), einem Song der Basement Tapes von Dylan und The Band. Ringo: „Ist das ein Blues-Stück?“ George: „Hast du sie nicht abgespielt, die Bänder von Dylan?“ Ringo: „Ach ja – äh, die wollten nicht laufen.“ George ist von Dylan sehr beeindruckt und fängt an, eine Eigenkomposition im Dylan-Stil zu spielen, RAMBLIN’ WOMAN (1:37); Ringo klimpert dazu auf dem Klavier herum, und Paul steuert ein bisschen Harmoniegesang bei. Im Anschluss singt George zu akustischer Gitarrenbegleitung ein weiteres offenbar unfertiges Stück mit der Textzeile „Is it discovered?“ (0:40), und nun ist es Paul, der aus The Beatles Book vorliest. Ihn amüsiert die Hofberichterstattung: „Mir gefällt es, wie sie das durchziehen.“ George: „Auf die ist Verlass.“ Paul: „Das ist schon irgendwie verrückt. Selbst wenn wir im Kittchen säßen, würden sie noch niedlich drauflosschreiben: ‚Ringo, der ein bisschen einsitzt, sagt: Ist famos hier!’“
Ebenfalls amüsiert, spielt Ringo ein paar eher einfallslose Takte auf dem Klavier, und George schrammelt dazu auf der Gitarre herum. Das sind nicht einmal Fingerübungen, sondern eher Versuche, die Langeweile zu vertreiben. Gesprächsthema ist Pauls neuer Bart, dann Dylans ehemalige Begleitgruppe The Band, von der George regelrecht schwärmt: „Das ist alles Country & Western – wisst ihr, deren Lieblingsnummer auf unserem Album ist Ringos Nummer“ (also das rumpelige Don’t Pass Me By, der erste von Ringo geschriebene Beatles-Song überhaupt). Paul: „Ringo, schreibst du mal wieder einen?“ Eine taktlose Frage, wie Paul selbst gleich merkt. Ringo: „Ja, ich schreib wieder einen – will’s gern machen, aber hab’s auch wirklich satt.“ Zur Demonstration hämmert er am Klavier drauflos, um Bruchstücke aus einem in Arbeit befindlichen Lied über den Kauf eines „Picasso“ (0:35) zu singen und zu spielen; Paul und George murksen begeistert mit. George möchte etwas erzählen – „Wisst ihr, Dylan ...“ -, aber die anderen beiden schneiden ihm das Wort ab. Ringo nimmt gleich auch wieder sein zweites neues Stück in Angriff, TAKING A TRIP TO CAROLINA (0:26). George (der an der Gitarre mitspielt): „Welche Tonart?“ Ringo: „Dieselbe.“
Dann schlägt George ein paar Akkorde auf der Gitarre an, vielleicht um ein eigenes Stück zu spielen, doch Paul singt dazu HEY JUDE (0:09), und sie beginnen über Wilson Picketts Version das Liedes zu sprechen. Paul freut sich, dass seine Songs von guten anderen Künstlern aufgenommen werden. George mokiert sich, dass die Filmcrew die Beatles beim Nichtstun filmt, kommt dann aber wieder zum Thema: „Wenn ich an die ganzen Stücke denke, die ich noch hab – die sind alle eher langsam. Ich hätte noch Taxman, Teil zwei – Taxman Revisited, fünf Jahre danach. Das könnte vielleicht nett sein, müsste aber eher was Trauriges werden, vielleicht mit Streichern.“ Paul: „Sitar vielleicht.“ George: „Bislang gibt’s nur ein paar, die ich live ohne Gruppe machen könnte.“ George traut