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Wach da sein. Klaus Fahrendorf
Читать онлайн.Название Wach da sein
Год выпуска 0
isbn 9783748261063
Автор произведения Klaus Fahrendorf
Жанр Религия: прочее
Издательство Readbox publishing GmbH
Der sog. leere Blick, den wir im Zazen üben sollten, steht auch für den Blick, den wir im Leben auf das Leben einüben sollten, einen nicht einengenden Blick, einen nicht ausschließenden Blick in genauer Wahrnehmung dessen, was ist – in „warmer“ Wahrnehmung! Einen Blick also auf die Welt in nachsichtigem Bewusstsein, in nachsichtigem Gewahrsein, in „merciful awareness“ also. Eine solche Bewusstheit zu kultivieren sehe ich, motiviert durch meinen Lehrernamen, der mir von meinem Meister, P. Johannes Kopp (Hôun-Ken Roshi), gegeben wurde, als mein tiefstes Motiv an für all das, was mir im Leben (und „Lehren“) noch möglich sein wird. Ich sehe das Wachsen dieser Bewusstheit auch in jedem ernsthaft Übenden. Man kann dem irgendwann auch gar nicht mehr entgehen. Das ist dann einfach so.
Das ist dann auch der Unterschied zu all den vielen unversöhnlichen, ab- und ausgrenzenden, von Vorurteilen, falschem Selbstbewusstsein und Macht- und Geltungsansprüchen geprägten Äußerungen und Handlungen, die wir in letzter Zeit immer mehr und verstärkt in Staaten und Gesellschaften und zum Teil in Religionsgemeinschaften auch und gerade in Europa und den USA feststellen müssen.
Es darf doch nicht sein, dass eine Religionszugehörigkeit darüber entscheiden soll, ob ich in ein Land einreisen darf oder nicht – so aber Steve Bannon, US-Präsident Donald Trump sowie der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland in einem Interview vom 4. 3. 2017 in der WAZ. So etwas ernsthaft zu propagieren oder gar zu versuchen, es umzusetzen, kann nur durch ein und in einem Bewusstsein geschehen, das, auf Vergangenheit, auf vermeintliche Größe, auf Glanz und Ruhm alter Zeiten und kämpferische, kriegerische und ideologische Auseinandersetzungen fixiert, diese alte Geltung von sich selbst, des Staates, der Gesellschaft, der Religion wieder herstellen, und sich so vollständig aus der Wirklichkeit des wahren Lebens, der Lebens-Wirklichkeit jetzt, entfernen will. Die „Kürbisse“ streiten sich und bekämpfen sich. Sie wollen sich gegenseitig den Platz streitig machen. Sie sehen nicht, sie ahnen oftmals nicht einmal, dass sie miteinander verbunden sind. Anders als jene Kürbisse in der wunderbaren Geschichte von Kosho Uchiyama Roshi6, mit der ich mein letztes Buch abgeschlossen habe7. Nachdem jene von dem Tempelmönch, auf dessen Feld sie hinter dem Tempel wuchsen, zum Zazen verdonnert worden waren und dabei verwundert feststellten, dass es eine Pflanzenstrippe gab, die von einem zum anderen verlief und sie zusammenhielt, kommen diese „Kürbisse“ nicht zur Erkenntnis:
„Das ist doch merkwürdig. Wir sind alle miteinander verbunden und leben ein einziges Leben: dabei sind wir uns törichterweise in die Haare gefahren. Was für eine Dummheit!“
Ja, wie töricht und dumm. Wie traurig! So werden weiterhin fixe Ideen, zu Dogmen erhobene Vorstellungen und verklärende „Erinnerungen“ sowie letztlich rein begriffliche Hirngespinste mit einem Scheinleben aufgeblasen und auf diese Weise versucht, das dynamische wahre Leben, das immer etwas Gegenwärtiges und Unbegrenztes ist, zu ersticken, anstatt das Leben aus seiner Wirklichkeit, die nicht mein ist, zu erleben8.
Kannst Du in Samadhi, in der Versenkung des Zazen wirklich jemanden als einen Anderen sehen, gar jemanden als deinen „Feind“ betrachten?
Eben!
Und deshalb ist es so wichtig, was wir hier tun und was wir in das Leben hinaustragen.
Danke!
6 Kosho Uchiyama Roshi, Weg zum Selbst – Zen-Wirklichkeit, 1973, S. 92-96.
7 Zen – inmitten des Alltags; 52 Wünsche für einen guten Heimweg, 2018, S. 237 ff.
8 Vgl. dazu auch Kosho Uchiyama, a.a.O., S. 42 – 44.
02
„Bauch vor – Gesäß zurück.“
Gestern hatten wir ein Treffen der aktuell hier an den Montagabenden und an den Zazenkais assistierenden Teilnehmer und Teilnehmerinnen, um das, was wir Körperkorrektur nennen und regelmäßig während der Sitzmeditation ausführen, zu überprüfen und neu einzuüben und so auch die neu Hinzugekommenen damit vertraut zu machen. Es war richtig spannend. Überraschend ist für mich, wie wir immer wieder neue Aspekte in und zu unserer Übungspraxis erkennen können. So auch gestern.
Dank intensiver und genauer fachkundiger Erläuterungen zum Funktionieren von Aufrichtung und der dabei beteiligten Körperteile (Wirbelsäule, Schulterblätter, Kreuzbein, Hüften, Sitzhöcker) ergaben sich für uns konkrete Folgerungen für eine körperbezogene Hilfestellung für die Übenden durch den Assistenten oder die Assistentin – als eine Unterstützung zum Lassen. Und dafür, dass, egal wie krumm und verformt die Wirbelsäule ist, jeder zu einer Aufrichtung in seinem Leibe kommen kann, in der er/sie sich in seinen/ihren Gedanken (sein) lassen kann, um hier Worte von P. Lassalle zu verwenden.
Lassen = Sein-Lassen, Sich-Sein-Lassen, das ist das Gegenteil von ichbezogenem Wollen, einem Ich-Wollen. Es ist das Gegenteil von Erreichen-Wollen, von Bessersein-Wollen, von Perfektsein-Wollen, von einem Wollen, darauf gerichtet, einem von anderen entworfenen Idealbild nachzueifern und/oder einem von und für uns selbst entworfenem Selbstbild zu entsprechen.
Der bei der „Körperkorrektur“ erfolgende Körperkontakt über die Handflächen und Fingerspitzen ist ein Spürkontakt und sollte als ein solcher und nur so, ohne weitere Anstrengung oder Bemühung oder Gedanken dazu wahrgenommen werden als ein Impuls zum Lassen, zum Lassen von (An-)Spannung und zum sich Öffnen-Lassen. Und zum Sich-Fragen-Lassen.
So ist dies eine Aufforderung, nicht uns und unseren Körper zu korrigieren. Sondern wir spüren nach, wir fühlen nach, wo sich Verspannung zeigt, sich unter Umständen als Fehlhaltung manifestiert, wo sich ein „falsches“ Bild von uns manifestiert oder wo und wie sich möglicherweise eine Lebenseinstellung und/oder Lebensführung ausgewirkt haben mag. Wir geben den betroffenen Körperregionen unsere liebevolle Aufmerksamkeit und Achtsamkeit (zurück). Immer und immer wieder. So üben wir die Aufrichtung unseres Körpers.
Und genauso üben wir aufrichtig (!) unsere innere Haltung. In liebevoller Aufrichtigkeit (!) zu uns selbst, in unserem unvollkommenen Menschsein im immerwährenden, im immer wieder neu in Gang zu setzenden Bemühen, „in vollkommener Annahme unserer selbst“, hin zu einer Wahrnehmung des sich in jedem Augenblick, mit jedem Wimpernschlag manifestierenden Friedens der Versöhnung mit uns selbst, mit all unseren Widersprüchen.
In vollkommener Reue und im vollkommenen Danken und im vollkommenen Bitten. Das zu ergründen, das zu realisieren, immer wieder neu gefordert von uns, ist ein Koan9. Ein Koan fürs Leben. Ein Lebenskoan.
Zurück zum Praktischen:
Worauf sitzen wir? Wir sitzen auf unseren Sitzhöckern. Das ist kein Sprachbild, sondern das ist die Anatomie unseres Knochenapparats. Wir können uns auf unseren abgerundeten Sitzhöckern bewegen. Wenn wir beispielsweise nur auf der Vorderkante eines Stuhls sitzen, sind wir da anders positioniert, als bequem zurück- und angelehnt.
Im Zazen sollten wir, egal ob auf dem Kissen, dem Bänkchen, Hocker oder Stuhl, „auf der Vorderkante“ sitzen und so unser Becken leicht nach vorne kippen, so dass wir unser Gewicht voll auf den Sitzhöckern ruhen lassen. Wie ein kleines Kind wölben wir so unsere Wirbelsäule auf der Höhe der Taille leicht nach vorne, und der Bauch darf und soll sich nach vorne wölben, während wir das Gesäß leicht nach hinten strecken. Das mag sich ungewohnt und komisch anfühlen. Lasst euch davon aber nicht irritieren. Es sieht euch keiner zu. Ihr müsst euch also nicht genieren. Je mehr ihr auf diese Weise die Wohltat einer solchen Aufrichtung spürt und durch die „Körperkorrektur“ immer wieder dahin zielende Impulse empfangt, umso mehr werdet ihr euch ganz natürlich in einer solchen Haltung zur Meditation setzen.
Katsuki Sekida, der sich sehr intensiv mit dem körperlichen Vollzug von Zazen befasst hat10,