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Theaterherz. Stefan Benz
Читать онлайн.Название Theaterherz
Год выпуска 0
isbn 9783347069312
Автор произведения Stefan Benz
Жанр Контркультура
Серия Herr-Beck-Krimis
Издательство Readbox publishing GmbH
Wer sich so gar nicht vom türkischen Trubel stören ließ, war Justin im Bett nebenan. Der vielleicht sechzehnjährige Bub, der vom Mofa gefallen war, nun den linken Arm in einer Schlinge trug und das rechte Bein in einem Gips stecken hatte, hielt selbst Hof. Nachdem er und Beck sich kurz bekannt gemacht hatten und der Junge sich ausgiebig darüber gefreut hatte, dass Justin und Justus ja fast die gleichen Namen seien, waren die ersten Mädchen aufgekreuzt. Zeitweise umringten sie zu siebt sein Bett, malten rosa Herzchen auf seinen Gips, beschenkten ihn mit Schokolade, Cola und anderen Liebesgaben. Eine hatte Justin Notizen aus der Schule mitgebracht und versprach, für ihn mitzuschreiben, eine Andere zeigte stolz ihr frisches Nabelpiercing, das Beck bedenklich entzündet vorkam, eine Dritte schwärmte ihren Freundinnen von einer Liste mit Songs vor, die sie dem Jungen zusammenstellen wollte, eine Vierte wuschelte dem Patienten ständig durch die Haare, die an der Seite kurz waren, während über der Stirn ein hochgeföhnter Pony in einer kessen Welle offenbar mit Haarlack der Schwerkraft trotzte. Wie es aussah, schwänzte der komplette weibliche Teil der Klasse gerade den Unterricht, um dem Schwarm des Schulhofs zu gefallen. Je länger er zusah, wie der junge Hahn im Korb umgickelt und umgackert wurde, desto sicherer war Beck, dass Justin sich mit Absicht vom Mofa gestürzt haben musste.
Er fand das auch eine Zeitlang ganz amüsant, bis zwei Mädchen beschlossen, sich auf sein Bett zu setzen, was natürlich gar nicht ging, denn dort hatte er seine Tageslektüre ausgebreitet, die Paula ihm gebracht hatte, zusammen mit einem Pyjama, der an ihm schlotterte, und Äpfeln, die er nicht mochte. Beck verscheuchte die beiden jungen Damen und war dann eine Weile damit beschäftigt, die zerknitterte „Neue Post“ wieder zu glätten. Dabei war das, was er dort lesen musste, ohnehin nicht dazu angetan, seine Stimmung zu heben. Im Kulturteil stand an der Stelle, wo seine Kritik über „König Lear“ hätte sein müssen, nur ein großes Szenenbild mit Lear in seiner Riesenwindel. Darunter: „Großer Erfolg im Schauspielhaus: Langen Beifall gab es am Samstagabend nach der Premiere von König Lear im Schauspielhaus. Shakespeares Stück wird in der Fassung von Regisseur Bernd Huber zu einem Drama im Pflegeheim. Die Vorstellung musste vor der Pause kurz unterbrochen werden, weil ein Zuschauer gesundheitliche Probleme hatte. Dem künstlerischen Erfolg tat das keinen Abbruch.“
Becks Laune tat dies wiederum einen gewaltigen Abbruch. Kein Wort davon, dass der Kritiker der „Neuen Post“ gerade so dem sicheren Tode entronnen war. Keine Entschuldigung beim Leser dafür, dass er zum Frühstück nicht wie gewohnt die Kritik von Justus Beck lesen konnte. Matt war er nach dem Anfall und dem vielen Liegen ohnehin, aber als er das gelesen hatte, senkte sich eine graue Last auf ihn, die sich klamm anfühlte wie Nebel im Herbst. Dabei ließ der junge Sommer draußen keinen Zweifel daran, dass er in erfreulicher Frühform war. Hatten Sie bei der „Post“ nur darauf gewartet, ihn endlich loszuwerden? War er schon längst abserviert, ohne dass es ihm einer ins Gesicht hätte sagen wollen? Zwar war er immer noch da, aber die schnöde Bildunterschrift fühlte sich an wie eine Beerdigung dritter Klasse.
Das Massaker an der Elster, das er ansonsten als spektakuläre Kuriosität aus dem Tierleben willkommen geheißen hätte, traf ihn in dieser Stimmung völlig schutzlos. Beck starrte auf das weiß-schwarze Knäuel aus Federn mit einem abgeknickten Flügel und einem roten Fleck, wo der Kopf hätte sein müssen. Er konnte sich von dem Anblick lange nicht losreißen, bis er eine Unruhe im Raum spürte, die neu war, nicht von Justins Fanclub oder aus dem ausgelagerten Büro von Kasimpasa-Kebab stammte.
Drei weiße Gestalten waren zur Tür hereingekommen. Er wusste, was das bedeutete, sah aus dem Augenwinkel, wie Özbaks Familienbetriebsversammlung sich auflöste und Justins Fanclub aufgeregt tuschelnd den Rückzug antrat. Beck schloss die Augen. Vielleicht würde die Visite einfach an ihm vorübergehen. An Ärzten war Beck stets weiträumig vorbeigegangen, selbst als das mit den Rückschmerzen, dem tauben Bein, der Müdigkeit am Tage, dem Schlaf ohne Ruhe, der Atemnot, den dicken Füßen immer unangenehmer geworden war. Als ihn die Ärzte ins Schlaflabor und zur Rücken-OP schicken wollten, hatte er den Kontakt zu ihnen eingestellt. Einmal war er noch beim Zahnarzt gewesen, als die Schmerztabletten nicht mehr geholfen hatten, und natürlich hatte sich der Arzt als Metzger erwiesen, der fluchend über ihn gebeugt zwei Backenzähne bröckchenweise aus seinem gefühllosen Kiefer gehebelt hatte. So einem Feldscher und seinen Adjutanten jetzt ausgeliefert zu sein, fand er gruselig. Am liebsten wäre er aufgestanden und einfach zur Tür rausspaziert, aber er musste sich eingestehen, dass er sich fühlte, als wäre eine Dampfwalze über ihn drüber gefahren. Also stellte er sich schlafend, hörte aber, wie sich die weißen Gestalten von Bett zu Bett vorarbeiteten.
Sie ließen sich Zeit, so viel Zeit, dass Beck tief in sich drin einen leichten Krampf zu spüren begann. Er dachte schon, sein Herz wolle ihm einen erneuten Streich spielen, da merkte er, dass es Hunger war. Am Sonntag in der Intensivstation hatte er keine Lust auf Essen gehabt, man hatte ihm Kochsalz und Traubenzucker durch die Vene verabreicht. Mehr nicht. Und an diesem Morgen war ihm der Appetit umgehend vergangen, als er das Tablett sah mit dem weichen Graubrot, einer Scheibe Hirnwurst, der eingeschweißten Portion roter Marmelade und dem Kamillentee, in dem er nicht mal seine Füße hätte baden wollen. Graues Brot, graue Wurst, selbst der Tee sah im schmutzig weißen Plastikbecher fahlgrau aus. Es war grauenhaft. Auf seine Frage nach einem doppelten Espresso hatte die Schwester nur gelächelt. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht verstanden hatte oder ob sie sein Anliegen für medizinisch absurd hielt. Dass er nicht nach einem Brandy fragen musste, wusste er selbst. Deshalb hatte er auch Paula nicht gebeten, ihm eine Flasche von dem Syrah-Merlot-Cuvée aus dem Languedoc ins Krankenhaus zu schmuggeln, die er in seinem Weinladen gerade ohnehin kistenweise herumstehen hatte. Das Zeug verkaufte sich nicht, der Laden lief nicht mehr. Sein Franchise-Vertrag würde auslaufen, und dann wäre Schluss. Aber heute müsste noch mal jemand aufsperren. Wieso fiel ihm das jetzt erst ein? Er musste Paula anrufen, damit sie ein Schild an die Tür hängt. Das ging in diesem Moment natürlich nicht, denn er schlief ja tief und fest. Wie lange brauchten diese Ärzte denn noch? Er hörte sie tuscheln und dann ein Räuspern direkt über sich: „Herr Beck, können Sie mich hören?“
Mist. Musste das sein? Jetzt bloß keine Schwäche zeigen, dachte er, blinzelte und reckte sich, als würde er gerade aus einem erholsamen Mittagsschläfchen aufwachen: „Oh, Herr Doktor, ich hab Sie gar nicht gehört. Ich muss wohl eingeschlafen sein.“
„Das ist ganz normal. Ihr Körper braucht Ruhe. Sie hatten einen Hinterwandinfarkt“, sagte der Mann mit den gegelten braunen Locken, der aussah, als hätte er gerade sein Medizinstudium begonnen, würde aber die Seminarstunden im Solarium verbringen. „Reinheimer“ stand auf seinem Namensschild, und nur der Umstand, dass hinter ihm zwei noch jüngere Menschen die Hälse reckten, ließ Beck hoffen, dass es sich bei dem jungen Herrn, der mit ihm redete, tatsächlich um einen Arzt und nicht um den Stationspraktikanten handelte.
Hinter Reinheimer schauten ein junges Mädchen mit zerzausten weißblonden Haaren und ein etwas jüngere Kerl mit fusseligem Braunbart rechts und links über die Schultern ihres Chefs. Das Mädchen mit dem Struwwelkopf und einem silbernen Stecker im rechten Nasenflügel hieß ausweislich ihres Namensschildes Ellenbruch, der zauselige Hipster Darrmann. Beide hatten sie Klemmbretter vor den Bauch gedrückt, auf die sie, sobald Reinheimer zu sprechen begann, verdruckst Notizen kritzelten, indem sie das Brett unten auf Höhe des Hosenbundes fixierten und es dann nur wenige Zentimeter nach vorne kippen ließen. All das wirkte auf Beck nicht gerade vertrauenerweckend. Und dann das noch: Hinterwandinfarkt! Hätte es nicht auch ein Schwächeanfall sein können? Oder wenigstens Angina Pectoris? Reinheimer hatte den Schrecken in Becks Augen offenbar erkannt. Er sah das wohl täglich: „Machen Sie sich keine Sorge. Das kriegen wir hin. Aber Sie müssen gut mithelfen.“
Na, danke, dachte sich Beck.
„Ihr EKG ist eindeutig“, sagte Reinheimer und wedelte mit einem Zettel voller Zacken vor Darrmanns Nase: „Was sehen Sie?“
Braunbart zögerte kurz, aber lang genug, dass Struwwelköpfchen ihm die Schau stehlen konnte: „ST-Strecken Hebung!“
„Und was sehen Sie nicht“, fragte Reinheimer mit Blick auf Darrmann, der jetzt so verständnislos dreinschaute,