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      Zu diesem Buch

      1966 flieht Julia Thompson mit siebzehn Jahren Hals über Kopf aus England nach Duisburg zu ihrer Mutter, die sie schwer verletzt vor ihrer Tür liegend findet.

      Fünf Monate später bringt sie ihre Tochter Lotte zur Welt, die für die ungewollte Schwangerschaft, die Julias unbekümmertes Leben und ihren Traum von einer Modelkarriere zerstört hat, büßen soll. Nach fünfzehn Jahren Demütigung und Fremdbestimmung erlangt Lotte durch einen schweren Sturz vom Schwebebalken unverhofft ihre Freiheit, da der mütterliche Missbrauch im Krankenhaus ans Licht kommt und Julia in die Psychiatrie eingewiesen wird. Lotte nutzt ihre neu gewonnene Freiheit dazu, herauszufinden, wer ihr Vater ist und was damals im Jahr 1966 wirklich geschehen ist. Bei ihrer Suche stößt sie auf erschütternde Familiengeheimnisse, die mit dem Kindertransport der Großmutter nach England 1938 beginnen und 1982 in einer ungeahnten Begegnung ihren Höhepunkt finden.

      Denise Rüller

      Die Leiden der jungen Lotte

      Roman

      Copyright © 2020 Denise Rüller,

       [email protected]

      Umschlagabbildung: © Friedhelm Rüller,

       www.friedhelm-rueller.de

      Verlag und Druck: tredition GmbH, Halenreie 42,

      22359 Hamburg

      Für Nissi

      »Das habe ich getan«, sagt mein Gedächtnis. »Daskann ich nicht getan haben«, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach.

      Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse

      Parkklinik Hochfeld Duisburg

      Prof. Dr. Mechthild Rosenowsky

      Therapieprotokoll

      Name der Patientin: Schröder, Julia

      eingewiesen am: 10.08.1982

      geboren am 15.01.1949 in Neasden (GB)

      Familienstand: ledig

      Kinder: eine Tochter, geb. am 15.04.1967

      in Duisburg

      Sitzung: 1. Datum: 12.08.1982

       Äußeres Erscheinungsbild

      Die Patientin hat einen asketischen Körperbau, wirkt allerdings ausgezehrt. Sie macht einen sehr gepflegten Eindruck, ist akkurat geschminkt, trägt auffällig schweres Parfüm, hat ihre Haare streng zu einem Dutt gebunden, rot lackierte Fingernägel und Lippenstift. Sie ist fraulich-streng gekleidet mit engem, knielangem Rock, Bluse, Jacket und Pumps.

      Trägt Ohrringe und eine Halskette, keine Ringe.

       Äußeres Verhalten

      Die Patientin tritt nervös in das Behandlungszimmer ohne zu grüßen und begegnet mir in einer feindseligen Haltung. Sie durchbohrt mich minutenlang mit starrem Blick ohne zu blinzeln und bleibt trotz meiner Aufforderung, sich zu setzen, in der Nähe der Tür stehen. Sie lehnt jegliches Beziehungsangebot ab.

      Nach etwa zehn Minuten setzt sie sich mir gegenüber in steifer Haltung in den Sessel ohne sich anzulehnen, die Beine wechselnd übereinanderschlagend und die Hände auf dem Oberschenkel abgelegt. Sie weicht meinem Blick demonstrativ aus, indem sie an mir vorbei schaut.

       Denkweisen/Gefühlslage/soziale Interaktion

      Sie hegt großes Misstrauen gegenüber dem Personal und tritt anderen mit Feindseligkeit entgegen. Sie schließt sich in ihrem Zimmer ein und gewährt dem Personal keinen Zutritt, weshalb ihr der Schlüssel abgenommen werden musste.

      Außerdem weigert sie sich, die Mahlzeiten gemeinsam mit den anderen Patienten einzunehmen.

      Auf die Fragen, wie es ihr gehe und ob sie wisse, warum sie hier sei, antwortet sie in aggressivem Ton, dass sie unrechtmäßig eingewiesen worden sei und jegliche Aussage verweigere, bevor sie nicht mit ihrem Anwalt gesprochen habe.

      Sie fühle sich entwürdigt, mit den Irren eingesperrt zu sein. Sie sei geistig voll auf der Höhe und habe sich nichts zu Schulden kommen lassen. Auf Beruhigungs- und Beschwichtigungsversuche geht die Patientin nicht ein. Auch auf Fragen zu ihrer Lebenssituation verweigert sie eine Antwort und erwidert stattdessen, dass mich das nichts angehe.

       Vorläufige Diagnose/Krankheitsbild

      Die Patientin ist nicht in der Lage, sich und ihre Situation realistisch einzuschätzen und zeigt keine Bereitschaft zur Selbstreflexion. Sie kann weder eine Beziehung zu sich selbst noch zu mir oder anderen aufbauen. Die biografische Anamnese, die auf Informationen der Mutter und der Tochter der Patientin basiert, lässt eine posttraumatische Belastungsstörung vermuten, die sich an folgenden Verhaltensstörungen mit schizophrener Symptomatik zeigt: Feindseligkeit, Aggressivität, mangelnde Einsichtsfähigkeit, Unkooperativität, körperliche Erregung, Nervosität und innere Unruhe.

      Das Trauma auslösende Ereignis liegt wahrscheinlich etwa sechzehn Jahre zurück und hängt mit dem damaligen

      Lebensgefährten und/oder der Zeugung der Tochter zusammen, eine Vergewaltigung ist in Betracht zu ziehen.

      Weiterführende Maßnahmen/nächste Therapieschritte

      - Tablettenentzug

      - Beziehung zur Tochter thematisieren

       Lotte

      Mit meinem richtigen Namen war ich eigentlich ganz zufrieden, aber Mutter nannte mich Biggy, nach einem berühmten Model aus ihrer Jugendzeit Ende der Sechziger. Und weil sie es nicht geschafft hat, eine zweite Biggy zu werden, musste ich das stellvertretend verwirklichen. Meine Kindheit beschränkte sich deshalb auf meine ersten vier Lebensjahre, in denen mich Mutter noch linksliegen ließ. Die schönsten Erlebnisse waren die Tage ohne Mutter am Baerler See, wo ich Romeo als Eisfee assistieren durfte. Romeo stellte nicht nur unvergleichliche Sorten Eiscreme her, sondern war auch eine einzigartige Sorte Mann, wie Großmutter immer sagte. Im Jahr 1966 kehrte Romeo seiner Heimat, den Dolomiten, den Rücken, wanderte über die Alpen nach Deutschland und landete mit zwanzig Jahren am Beeckbach Nummer 22, in dem Haus neben meiner Großmutter, in dem ich ein Jahr später geboren wurde. Sie war seine erste und blieb seine treueste Kundin. Da Romeo sich noch kein Ladenlokal leisten konnte, verkaufte er seine hausgemachten Bällchen aus dem Küchenfenster. Es gab fünf Sorten: Vanille, Schokolade, Stracciatella, Erdbeer und Zitrone; mit dem Zitroneneis gewann er später sogar eine Goldmedaille. Sein Geheimnis, so verriet er mir, seien unbehandelte Zitronen aus der sonnigen Heimat. Meine Großmutter machte überall, wo sie hinkam, Werbung für Romeos Eis und da er einer der ersten Eismacher im Ruhrgebiet und Eiscreme eine seltene und schwer zu bekommende Gaumenfreude war, standen die Leute zu den Stoßzeiten bei gutem Wetter unter seinem Küchenfenster schlange, sodass Großmutter eines Tages einfach in seine Küche trat, sich eine Schürze umband, eine grüne Schiffchenmütze, wie Romeo sie trug, aufsetzte und neben ihm Kugel für Kugel zu je 30 Pfennig aus dem Fenster reichte. Nach vier Monaten hatte Romeo so viel Geld eingenommen, dass er sich ein Fahrrad und einen kleinen Anhänger, den er zu einem Eiswagen umbaute, kaufen konnte. Damit fuhr er in benachbarte Orte und am Wochenende zum Baerler See und ging schon bald als Eiscreme-Casanova in die Duisburger Analen ein. Denn seine Erscheinung war der sinnlichen Verführung seines Eises durchaus ebenbürtig, sodass sich zahlreiche junge Frauen sowohl nach seiner Eiscreme als auch nach ihm die Finger leckten, was ihm sichtlich Vergnügen bereitete und was er charmant auskostete. Seine schwarzen Haare, braunen Augen, vollen Lippen und weißen Zähne, dazu seine sportlich-schlanke Gestalt und dunkle Stimme, mit der er hinter seinem Verkaufswagen italienische Arien schmetterte, trugen das Übrige dazu bei, dass Väter Angst um die Widerstandskraft ihrer Töchter hatten und sie sie daher nicht selten zum Eisholen begleiteten, um dem ungezügelten Liebäugeln Einhalt zu gebieten. Dabei war Romeo alles andere als ein Schürzenjäger, er lebte bescheiden und arbeitete das erste Jahr so hart, dass er keine Reserven hatte, auszugehen und Frauen kennenzulernen. Zudem schränkte seine zweite Leidenschaft neben der für Eiscreme den Kreis der zu ihm passenden Frauen erheblich ein: die für Shakespeare.

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